Nathanael
es ihm wirklich um seine persönliche Freiheit? Steckte vielleicht eine Frau dahinter? Oder etwas anderes? Und wenn er sich nur hinter einem unsichtbaren Schutzwall verschanzte, weil er sich vor seinen Gefühle fürchtete? Was hätte sie darum gegeben, in diesem Augenblick seine Gedanken zu lesen.
Ihre Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis, ausgelöst durch den Aufruhr ihrer Gefühle. Der sonnige Frühlingstag und das zarte Grün der Bäume trugen nicht dazu bei, ihre Laune zu verbessern, im Gegenteil, alles erschien ihr in diesem Moment eine Nuance dunkler, trister.
Und alles nur seinetwegen.
Das Hochhaus, von dem sich der Selbstmörder gestürzt hatte, lag in der Lexington Avenue, nicht weit vom Chrysler Building und nur wenige Blocks von Tessas Wohnung entfernt. Ein exklusives Apartmenthaus, in dem auch einige TV-Prominente wohnten.
Tessa erinnerte sich daran, einige von ihnen auf Stevens Dinnerparty gesehen zu haben. Sollte tatsächlich einer von ihnen der Selbstmörder gewesen sein? Die Vorstellung, noch vor wenigen Tagen die Hand desjenigen geschüttelt zu haben, der jetzt tot auf dem Asphalt lag, ließ sie erschauern. Deutlich sah sie die Szene vor sich, als sie und Nathanael in der Bar gestanden und den Worten Seths gelauscht hatten.
Seth war ein Nephilim, der Sohn eines Gefallenen, ein hagerer Mann von vielleicht dreißig Jahren, mit stechend schwarzen Augen und hohlen Wangen. Auf den ersten Blick hätte Tessa ihn in seiner heruntergekommenen Kleidung am ehesten für einen Junkie gehalten.
Cynthia erklärte ihr, dass er ein Computergenie war, der die meiste Zeit des Tages damit verbrachte, undurchsichtige Geschäfte per Internet abzuwickeln oder Webseiten für irgendwelche Leute zu pflegen. Dabei steckte er sich eine Zigarette nach der nächsten an. Sein persönliches Laster, wie die Prophetin betonte.
Seth wohnte außerhalb des Engelsghettos, irgendwo in einer stillgelegten Lagerhalle in Harlem. Aber einer seiner Kunden hatte sich mit ihm in einem Restaurant in der Nähe der Lexington Avenue getroffen. Nach dem Gespräch, auf dem Weg zur U-Bahn, war er unfreiwillig Zeuge des Selbstmords geworden.
«Ich habe alles mit angesehen, aus dem Citicorp Center. Er stand erst eine Weile da und sah nach unten. Dann sprang er. Es war grauenvoll.»
Seths bildhafte Schilderungen zerstreuten Tessas Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit und ließen in ihr die Erinnerung an Hazels Sturz aufleben. Der neue Selbstmord machte ihr klar, dass es sich nicht mehr um eine Reihe von Zufällen handelte, wie die anderen zu glauben schienen, sondern alles Teil eines diabolischen Plans sein musste.
Wie viele würden noch sterben? Wer war der Nächste? Diesem unseligen Treiben musste endlich jemand ein Ende setzen!
Tessa erkannte bereits von Weitem die gelben Absperrbänder und die Schaulustigen, die sich dahinter drängten. Nathanael steuerte Aarons Wagen in eine freie Parkbucht ein Stück weiter südlich auf der anderen Straßenseite.
«Ich muss mich ein wenig umsehen. Komm.»
Sie sollte da raus? Nicht noch ein Toter! Die Leichen nach dem Überfall, Hazel tot auf dem Pflaster, das hatte sich auf ewig in ihr Hirn gebrannt, und ihr wurde bei der bloßen Vorstellung übel. Schweiß brach ihr aus den Poren und ihr Herz raste.
Deutlich sah sie die verrenkten Glieder und die riesigen Blutlachen vor sich, spürte die Kälte des Todes, die sie einhüllte. Nathanael öffnete die Tür und stieg aus. Als sie keine Anstalten machte, ihm zu folgen, drehte er sich um und beugte sich zu ihr herab.
«Was ist? Du kannst nicht allein im Wagen zurückbleiben, während ich mich umsehe. Der Dämon oder der Gefallene könnten sich noch in der Nähe befinden …»
«Ich möchte lieber hierbleiben. Bei Gefahr schreie ich. Du wirst es sicher hören», sagte sie erstickt und sah zu ihm auf.
Er sah sie so eindringlich an, dass sie glaubte, er könnte ihre Gedanken wie ein Buch lesen.
«Der Tote wurde bestimmt längst mit einer Plane zugedeckt oder fortgeschafft», sagte er leise und drückte sanft ihre Hand.
Tessa zögerte noch immer.
Beruhige dich, deine Angst resultiert aus der Vergangenheit. Die ist vorbei.
Diese Angst war ein schreckliches Gefühl, das sie loswerden wollte. Sie konnte sie nur überwinden, wenn sie ihr ins Gesicht sah. Tessa atmete noch einmal tief ein, bevor ihre Hand nach dem Türgriff fasste.
Im selben Moment wurde die Tür neben ihr geöffnet. Sie ließ es geschehen, dass Nathanael sie vom Sitz hochzog und in die
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