Nathanael
Anziehungskraft, die zwischen Nathanael und ihr bestand, war mit nichts vergleichbar. Aber Leidenschaft ebbte schnell ab, das hatte sie schon einmal erfahren müssen. Was blieb danach? Besaßen sie und Nathanael Gemeinsamkeiten, die für ein Leben zu zweit genügten? Sie wusste nichts über ihn, gar nichts.
Nathanael drehte sich zu ihr um und riss sie aus den Grübeleien. Er umfasste ihr Gesicht und sah sie liebevoll an.
«Ich mag dich sehr, Nathanael, nein, es ist mehr, und ich denke, du empfindest genauso. Ich möchte mit dir zusammen sein. Wie soll es jetzt weitergehen mit uns?»
Plötzlich wurde seine Miene ernst. In seinem Blick lag Schmerz, den sie sich nicht erklären konnte. Sie spürte, dass das, was zwischen ihnen stand, nicht nur Steven sein konnte.
«Ja, ich mag dich auch sehr, begehre dich, aber …» Er küsste sie auf die Nasenspitze.
Sie quälte sich zu einem Lächeln. «Aber? Das hörte sich fast wie ein Abschied an», sagte sie leichthin, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Ihr Herz schlug schwer und stolperte, als er sie mit dem Ausdruck tiefster Qual ansah.
Weder stritt er ihre Worte ab, noch bestätigte er sie, sondern ließ sie im Raum wie eine düstere Wolke schweben, die sich über sie legte. In der bedrückenden Stille fühlte sie sich hundeelend. «Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Was ist los?»
Nathanael sah sie an und suchte nach den passenden Worten, um Tessa nicht zu verletzen und zögerte mit der Antwort.
Er spürte, wie sie von ihm abrückte. «Heißt das, das war jetzt alles? Wir haben miteinander geschlafen und gut?» Sie klang enttäuscht und verletzt.
Das war das Letzte, was er wollte. Aber er musste es tun, um ihret- und seinetwillen. Was sollte er ihr jetzt sagen? Es hätte keinen Sinn, denn du und ich, wir sind zu verschieden, um an eine gemeinsame Zukunft zu denken. Er wollte sie nicht noch tiefer in seine dunkle Welt ziehen.
Wäre Tessa dazu bereit, ihr geordnetes Leben gegen das an seiner Seite einzutauschen? Noch dazu, wo sie wusste, dass er nur zur Hälfte ein Mensch war? Sein Verstand sagte Nein. An ihrer Stelle hätte er auch Abstand gehalten. Was konnte er ihr schon bieten? Ein Leben voller Gefahr, das ihn stets in die dunkelsten Abgründe einer Seele blicken ließ.
Tessa gehörte in eine andere Welt, mit einem steten, komfortablen Leben. An der Seite eines Mannes wie Greenberg, der ihr alle Annehmlichkeiten bieten konnte. Er hingegen sah in sich nur den Mann für eine kurze Affäre, ein aufregendes Abenteuer. Aber das wollte er eigentlich nicht für sie sein, sondern mehr, weil er sich nach ihr sehnte.
«Gefühle schwächen, Nathanael», hatte sein Vater ihm oft genug eingebläut. Und er hatte recht. Seine Gefühle zu Gina endeten im Schmerz, und bei Tessa wäre es sicher das Gleiche.
Doch immer, wenn er in ihre grünen Augen sah, fühlte er dieses unbändige Gefühl der Sehnsucht in ihm, eine mächtige, emotionale Urkraft, die in seinen menschlichen Genen verankert war. Empfindungen, auf die er liebend gern verzichtet hätte.
Weshalb zur Hölle war er nicht wie sein Vater, so kalt und distanziert, dem weder ein Menschenleben noch sein eigenes etwas bedeutete? Ein Leben ohne Mitleid und Liebe?
Nathanael konnte sich noch allzu gut daran erinnern, wie er als Kind nach einem Lob oder einer zärtlichen Geste seines Vaters gelechzt hatte. Aber der Himmelskrieger Michael gab keine Schwäche preis. Wozu auch? Seine Pflicht war es, das Heer Gottes in den Krieg gegen Satan zu führen. Was zählte da der eigene Sohn, der einzig zum Zweck gezeugt worden war, die Höllenbrut in der irdischen Welt in Schach zu halten? Ein unbedeutendes Sandkorn der Schöpfung.
Auch von seiner Mutter hatte er nie die Liebe erhalten, die er sich wünschte. Ihr Leben bestand nur aus Angst, weshalb sie mit ihm zurückgezogen und unter einer anderen Identität in den Slums New Yorks gelebt hatte, um ihn vor Satans Häschern zu verstecken.
Erst durch Gina hatte er das erste Mal in seinem Leben kennenlernen dürfen, was es bedeutete, zu jemandem zu gehören. Doch der Preis, den er dafür gezahlt hatte, war hoch, und er war nicht dazu bereit, es ein weiteres Mal zu wagen.
Deshalb bereute er tief, Tessas Auftrag angenommen zu haben. Vor allem hatte er noch nie mit einer Auftraggeberin geschlafen. Gefühle konnten nicht nur den Auftrag, sondern seine gesamte Mission gefährden. Der Gefallene würde versuchen, Tessa in seine Gewalt zu bringen, um ihn zu erpressen. Was wäre, wenn
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