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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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legte einen Sack vor ihm ab, drehte sich um und verschwand. Die Stille summte, untermalt vom leisen Rauschen einer Klimaanlage.
    „Darin befindet sich das, was du brauchst“, erklang Hazlewoods Stimme aus unsichtbaren Lautsprechern. „Tanke Kraft, du wirst sie brauchen. Ich habe eine Aufgabe für dich.“
    Nathaniel zog den Sack an sich. Er fühlte die Knochen darin. Augenblicklich floss Kraft durch seinen Körper, tröstend und warm, doch mit ihrer Wohltat, die seine ausgehungerten Zellen füllte, kam die Wut zurück. Man hatte diese Knochen aus dem Grab geholt und damit eine heilige Stätte entweiht. Ungeheuerlich musste Absá dieser Frevel erscheinen. Warum schwieg sie, selbst jetzt, da man ihr Heiligstes geschändet hatte? Es konnte nur eines bedeuten: Sein Schicksal verlief in den Augen der Schamanin so, wie es vorausbestimmt war. Nicht gerade ermutigend.
    Nathaniel zog den Sack fester an sich, hungernd nach Kraft. Es gab Geschichten, dass die Knochen nicht das Aussehen menschlicher Gebeine besaßen. Manche sagten, sie seien durchsichtig wie Kristall. Andere erzählten von einem bläulichen Licht, das ihnen entströmte, und von einer hauchzarten Struktur, die die Knochen wie ein Netz überzog.
    Er hatte sie nie gesehen. Damals, als sein Stamm nach Montana kam, auf der Flucht vor dem Unausweichlichen, hatte der Medizinmann sie in jener unzugänglichen Schlucht nach altem Ritus bestattet. Seitdem waren sie von niemandem mehr berührt worden. Der Frevel ihrer Entweihung wog so schwer, dass nichts ihn hätte mildern können. Nathaniel sah das Grab vor sich, ausgeplündert und leer. Zerstört für immer.
    Unvermittelt sprang er auf, entlud seine neu gewonnene Kraft in einem wilden Schrei und stürzte sich auf die Tür. Er hämmerte dagegen, bis das Metall sich verbog, ließ die Kraft des Totems hervorströmen, bis der Abdruck seiner Hände sich darin einbrannte und der Schmerz wie Eissplitter die Hitze seiner Raserei durchdrang.
    „Nat?“ erklang plötzlich eine zarte, vertraute Stimme. „Nat, hörst du mich?“
    Er erstarrte. Neben den Knochen sank er zu Boden und blickte auf seine zerstörten Hände hinab. Knochen wuchsen wieder zusammen, Sehnen, Fleisch und Haut entstanden binnen weniger Sekunden neu.
    „Josephine?“ brachte er hervor.
    „Ja. Ich bins. Nat, du musst …“ Er hörte einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem Schmerzenslaut.
    „Lasst sie in Ruhe!“ schrie er die Lautsprecher an. „Lasst sie verdammt noch mal in Ruhe.“
    Wieder hieb er seine Faust gegen die lädierte Tür, dann ein zweites und drittes Mal, bis Josephines Stimme ihn innehalten ließ: „Vergiss mich. Denk nur an dich. Ich will nicht, dass du wegen mir …“
    Wieder ein Schlag, doch ihm folgte kein Stöhnen wie zuvor. Er hörte Josephine fluchen. Wild, furchtlos und zornig. Es knackte im Lautsprecher, dann erklang Hazlewoods Stimme: „Eine mutige kleine Katze. Kein Wunder, dass du alles für sie tust. Wenn du ihre Haut demnächst nicht in kleinen Puzzleteilen vor dir liegen haben willst, tu das, was Christian dir gleich sagen wird.“
    „Du spielst mit etwas, das du nicht beherrschen kannst“, spie Nathaniel ihm entgegen. „Du spielst mit einer Macht, die älter ist als alles, was Menschen zu kennen glauben.“
    „Aber auch diese Macht hat ihre Schwächen“, antwortete Hazlewood unbeeindruckt. „Kennt man sie, beherrscht man selbst das stärkste Geschöpf auf Gottes Erden.“
    „Ja, ich habe Schwächen. Schwächen, von denen du nur träumen kannst. Aber der Geist hat sie nicht. Spiel mit ihm und er wird dich mit einem Augenzwinkern vernichten.“
    „Warum hat er es dann nicht längst getan? Weil du ihn kontrollierst, deshalb. Du liebst diese Frau und würdest alles für sie opfern. Wie auch immer, Christian wird gleich bei dir sein. Ich rate dir, ihm anstandslos zu folgen. Und falls du versucht bist, ihm irgendeine Information zu entlocken – er weiß nicht, wo deine Freundin ist. Ich bin nicht so dumm, wie du vielleicht ge-hofft hast.“
    Sie redeten viel und sagten nichts. Man hatte ihm ein Hemd und einen Anzug aus teurem, schwarzem Stoff gegeben, der ihm Professionalität verleihen sollte. Die Leute, die an dem riesigen Tisch saßen, vor sich ein auf den Millimeter genau ausgerichtetes Gedeck, unterschieden sich kaum voneinander. Sie besaßen strenge, emotionslose Gesichter, perfekt sitzende Kleidung in dunklen Farben, kurzes, ordentlich gekämmtes Haar. Regungen in ihren versteinerten Zügen zeigten sich nur,

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