Nathaniels Seele
ausstieg, verwandelte sich diese Verwirrung in Verblüffung. Das konnte nicht wahr sein. Nein, ausgeschlossen. Und doch war es so.
Der Besucher war niemand anderes als jener mysteriöse Fremde, der ihr den Hals gerettet hatte. Er klappte seinen Sitz nach vorn, ließ den Hund hinausspringen und warf die Tür des Wagens so ruppig zu, dass der Knall über die ganze Farm hallte. Anschließend blieb er einfach stehen. An Ort und Stelle und mit der eindeutigen Aufforderung, sie möge gefälligst den ersten Schritt tun.
Josephine schnappte nach Luft. „Ganz ruhig“, beschwor sie sich. „Hör dir einfach an, was er zu sagen hat. So schlimm wird es wohl kaum werden.“
Jeder ihrer Schritte war bleischwer, denn obwohl sie den Kopf gesenkt hielt, spürte sie die bohrenden Blicke des Mannes. Als sie schließlich vor ihm stand, flatterte ihr Herz wie ein waidwunder Vogel. Dennoch zwang sie sich, gelassen aufzublicken. Er schien nicht derselbe Mann zu sein, vor dem sie sich im Dunkel der Nacht gefürchtet hatte. Seine Aura der Düsternis war, wenn überhaupt noch vorhanden, nur noch eine subtile Ahnung. Jetzt erkannte Josephine auch, dass seine Augen nicht schwarz waren, sondern von einem schokoladigen Braun. Diesmal hatte er sein Haar zu einem lockeren Zopf zusammengebunden, was dafür sorgte, dass er nicht mehr in demselben Maße ungezügelt wirkte wie bei ihrer ersten Begegnung. Zudem trug er Bluejeans, deren Löcher aussahen, als seien sie tatsächlich durch Abnutzung entstanden, ein braunes T-Shirt, das über seiner Brust spannte sowie einen geflochtenen Ledergürtel, an dem indianische Dinge baumelten. Ein abgewetztes Beutelchen, ein Messer, ein Schmuckstück, bestehend aus Lederschnüren, Knochenplättchen, kleinen Muscheln und einem silbernen Totenkopf sowie eine kleine, eckige Schachtel, in der man Dinge wie Feuerzeuge, Angelschnüre und Streichhölzer aufbewahrte. Die einzigen eindeutigen Wiedererkennungswerte waren der Talisman und die silbernen Creolen.
Josephine scharrte mit dem Fuß im Staub, sprachlos vor Erstaunen. Sie wollte etwas sagen, irgendetwas, aber in ihrem Gehirn herrschte Ebbe. Hilflos starrte sie auf den Hund hinunter, der mit schief gelegtem Kopf zurückstarrte. Sein flauschiges Fell war schwarz und durchzogen von grauen Flecken. Er besaß einen großen, majestätischen Kopf, der entfernt Ähnlichkeit mit einem Wolf besaß, und nur die schlaff umgeknickten Ohren sorgten dafür, dass er nicht übermäßig Respekt einflößend aussah.
„Mein Name ist Nathaniel“, brach der Mann endlich das Schweigen. „Ich werde für dich arbeiten, aber ich tue es aus reiner Gefälligkeit. Ich will kein Geld. Kost und Unterkunft genügen mir. Aber es gibt ein paar Dinge, die du bedenken solltest, damit wir es zusammen aushalten.“
Josephine nickte automatisch. Hatte sie richtig gehört? Er wollte ohne Bezahlung arbeiten? Nach dem, was gestern vorgefallen war? Als ihr bewusst wurde, dass ihr Mund offen stand, klappte sie ihn verärgert zu.
„Es kann vorkommen,“ fuhr Nathaniel fort, „dass ich spontan für einige Tage wegmuss. In dem Fall löcherst du mich nicht mit Fragen. Vielleicht werde ich dir manchmal seltsam vorkommen, oder die Dinge, die ich tue. Auch in dem Fall bitte ich, von Fragen abzusehen. Was du wissen musst, werde ich dir sagen, wenn mir danach ist. Alles andere ist meine Angelegenheit.“
Josephine nickte. Das war sicherlich irgendein Indianer-Zinnober und im Moment zweitrangig. Wenn er ohne Bezahlung arbeiten wollte, konnte sie ihm ein paar freie Stunden oder Tage schlecht verwehren.
„Okay. Aber umsonst?“ Sie fühlte sich nicht wohl bei diesem Gedanken. Wäre er ein Freund gewesen, in Ordnung. Aber weshalb wollte ein Fremder umsonst für sie arbeiten? Zweifellos war es das Beste, das ihr unter den Umständen passieren konnte, und doch löste das Angebot nichts als Argwohn in ihr aus. Sie hatte im Laufe der Jahre einige Menschenschläge kennengelernt. Keiner davon arbeitete kostenlos, es sei denn, er zog irgendeinen anderen Nutzen daraus. Welchen Nutzen erhoffte sich also diese Rothaut?
„Oh, ich helfe nicht dir“, sagte Nathaniel, als könne er Gedanken lesen. „Ich helfe den Pferden.“
„Ich gebe es ja zu“, schnappte Josephine zurück. „Einiges war im Argen.“
„Das fiel dir also erst hinterher auf? Glückwunsch. Und das meine ich ernst, denn viele bekommen ihre Augen niemals auf.“
„Ich habe mich darum gekümmert.“ Der Triumph in seinem Gesicht schmeckte bitter
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