Nathaniels Seele
Willen. Wie immer. Ausgedörrte Lippen schabten über seine Brust. Er spürte die spitzen, krallenartigen Nägel ihrer Finger durch sein Haar kriechen wie Beine einer riesigen Spinne, in seinen Nacken gleiten und unvermittelt so festzupacken, dass ein sengender Schmerz seine Wirbelsäule hinunterschoss. Nathaniel wollte ihre Nähe mit geschlossenen Augen über sich ergehen lassen, doch die Schamanin zwang ihn, seine Lider zu öffnen. Angewidert blickte er zu ihr hinauf. Die einst bernsteingelben Augen der Alten waren ausgeblichen. Nun besaßen sie eine farblose Kälte, die Hand in Hand ging mit der Erbarmungslosigkeit ihrer Seele. Dünne, weiße Haarsträhnen hingen von der schartigen Kopfhaut herab, wanden sich um ihren Hals und streiften seine Wangen.
„Ich bin hässlich geworden“, krächzte die Alte. Ihre vor Trockenheit aufgeplatzten Lippen lächelten gierig. „Es wird Zeit, dass du mir etwas von deiner Kraft abgibst. Komm in der zweiten Nacht des Vollmonds zu deinem Grab. Dann wirst du mich nicht mehr abstoßend finden.“
Widerwillen brandete in Nathaniel auf, vermischt mit Ekel und loderndem Hass. Er wollte dieses widerwärtige Geschöpf von sich stoßen, ihre lüsternen Finger brechen, ihren dürren Hals umdrehen. Doch er lag da, als müsse er den Rest seines Lebens so verbringen. Bewegungslos. Hilflos. Schon mehrere Male hatte er versucht, die Schamanin das Zeitliche segnen zu lassen. Doch jedes Mal war ihr gebrochenes Genick wieder zusammengewachsen, hatten sich die Axtwunden geschlossen und war der zermalmte Schädel neu entstanden. Sie waren aneinandergekettet. Ewig und unabänderlich.
Das Hecheln der Alten beschleunigte sich, als sie sich auf ihn herabsenkte und ihre modrigen Lippen auf die seinen presste. Ein Teil in ihm wollte sich ihr hingeben, hieß ihren Kuss willkommen und ließ das Bild einer schönen, jungen Frau in seinem Geist entstehen. Der andere Teil, sein eigenes Ich, wurde zerfressen von Hass. Er wusste, dass sie diesen Hass schmecken konnte. Dass sie sich mit bittersüßem Genuss daran labte und er ihr ebenso gut mundete wie seine Abscheu. Die Schamanin berauschte sich an ihrer Macht. Vielleicht war sie einst jener reine Mensch gewesen, den er manchmal in verblassenden, fremden Erinnerungen sah. Aber wenn es ihn je gegeben hatte, so war er längst gestorben. Es gab viele Dinge, die eine Seele verderben konnten, und die stärksten davon waren ihm und diesem abscheulichen Geschöpf in die Hände gelegt worden.
„Wirst du je aufhören, mich zu hassen?“, krächzte die Alte. „Du weißt, dass du so niemals Frieden finden wirst.“
„Ja, ich werde dich ewig hassen.“ Er wollte die Worte mit aller Kraft ausstoßen, doch hinaus kam nur ein mattes Flüstern. Die Hand der Alten presste sich auf seine Brust, während ihre Nasenflügel sich witternd blähten. Nägel bohrten sich in seine Haut, durchbrachen die Grenze der Illusion und ließen echtes Blut fließen. Nathaniel wusste, wonach sie gierte. Doch hier und jetzt, schwebend in der Zwischenwelt zwischen Wachen und Träumen, war das Ersehnte für sie unerreichbar.
„Du hast sie getötet“, zischte er. „Du hast dafür gesorgt, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Du hast Petalas Sinne verschleiert, sodass sie nicht wahrnahm, was selbst unsere kleinsten Kinder erkannt hätten. Ich werde dich ewig hassen. Ewig. Bis zu meinem Tod und darüber hinaus.“
„Es war nötig“, raunte die Alte. „Sie mussten geopfert werden. Wenn du über ihren Tod nicht verzweifelt wärst, wären wir uns nie begegnet. Wie viel Leben wurden durch dich gerettet? Wie viel Leid hast du durch deine Macht abgewendet? Sag mir, war das nicht zwei Leben wert?“
„Geh verrecken!“, fauchte Nathaniel.
Die Schamanin küsste ihn erneut. Er spürte jeden Zentimeter ihres mumifizierten Körpers mit einer Intensität, die ihn würgen ließ.
„Sei glücklich über das, was man dir geschenkt hat“, hechelte sie ihm entgegen. „Akzeptiere es, dann findest du deinen ersehnten Frieden. Ich musste es damals tun. Du warst der Richtige. Du und niemand anderes. Hätten all die Stärke, all die Schönheit und der Stolz sterben sollen? Dahinsiechend in einem Gefängnis?“
„Vielleicht“, knurrte Nathaniel. „Denn dann wäre ich dort, wo ich sein sollte. Bei meiner Familie.“
„Akzeptiere es“, wiederholte die Schamanin und löste den Griff in seinem Nacken. „Es ist dein Schicksal. Die Geister haben dir dasselbe gesagt, als du sie fragtest.
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