Nathaniels Seele
für eine Illusion.
„Dann wäre es eine Chance, ihnen unsere Welt zu zeigen und sie lernen zu lassen. Nat, man hat dir eine Stelle als Führer angeboten. Du würdest für das, was du am liebsten machst, eine Menge Geld bekommen. Der einzige Unterschied wäre, dass ab und zu ein paar wissbegierige Naturliebhaber hinter dir herschleichen.“
„Ich als Touristenführer.“ Nathaniel lachte aus vollem Hals. „Jeremy, was ist los mit dir? Würdest du das diesen armen Leuten wirklich antun?“
„Du machst so was Ähnliches doch schon“, gab er matt zurück.
„Ja, mit ein paar Jugendlichen unseres Stammes, von mir dafür ausgewählt. Ich lasse mir aber nicht irgendwelche dahergelaufenen Idioten aufschwatzen, die sich beim Reiseleiter beschweren, weil ich keinen Kopfschmuck trage oder ihnen nach zwei Stunden noch keine höhere Erkenntnis verpasst habe. Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber der Typ, der wegen dieser Sache bei uns war, trug einen zweitausend Dollar Anzug.“
„Tja, so was machen die.“
„Er redete etwas von optimaler Nutzung der Vorzüge unseres Landes. Er sagte, dass er hoffe, unser Rat möge die richtige Entscheidung treffen. Er redete von Arbeitsplätzen, Geld und Ansehen. Ich kenne die Verträge der Weißen. Vom Vertrag von Fort Laramie bis heute haben sie eines gemeinsam: Die Weißen bekommen, was sie wollen, und wir bleiben betrogen zurück. Bis heute hat sich daran nichts geändert.“
„Darauf kannst du doch nicht ewig herumreiten.“ Langsam verlor Jeremy seine Contenance. „Vergangen ist vergangen, und ein paar Dinge haben sich geändert. Wir sind nicht mehr so ahnungslos wie früher. Überleg mal, Nat, was uns durch die Lappen geht. Klar, wir sind nicht arm. Und wir hausen nicht neben Uranbohrlöchern oder in runtergekommenen Baracken. Aber wir könnten so viel mehr aus unseren Möglichkeiten herausholen.“
„Nein.“ Nathaniel legte alle Härte in seine Stimme, die er gegenüber seinem Zögling aufbringen konnte. „Der einzig wahre Weg ist der, den wir seit Jahrtausenden beschritten haben. Wir dürfen das, was uns heilig ist, nicht mit Füßen treten. Wir dürfen den Profit nicht vor unsere Mutter stellen.“
„Dann wirst du demnächst dein eigenes Volk manipulieren müssen. Das moderne Denken macht vor nichts halt. Den Lauf der Dinge kann niemand aufhalten, Nat. Nicht einmal du.“
„Ich werde es wenigstens versuchen. Und ich hoffe, dass du auch weiterhin auf meiner Seite stehst.“
Der Junge nickte. „Deine Aufgabe ist edel und gut. Das will ich gar nicht bestreiten. Also sei immer schön geistreich. Aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem du kapitulieren musst. Die Welle der Moderne überspült auch uns. Wir dürfen uns nicht von ihr mitreißen lassen, aber wir sollten auf ihr schwimmen, um nicht unterzugehen.“
„Das tun wir bereits“, erwiderte Nathaniel aufgebracht. „An vieles haben wir uns angepasst. Wir schweben zwischen Tradition und Moderne, wissen aber immer noch, wer wir sind und woher wir kommen. Ein guter Weg, wie ich finde. Oder etwa nicht?“
Jeremy zog den Kopf zwischen die Schultern, wie eine Schildkröte, die Gefahr wittert.
„Ich bin nicht bereit, noch mehr Kompromisse einzugehen“, fügte Nathaniel milder hinzu. „Und schon gar nicht erlaube ich das touristische Ausschlachten des Reservatslandes. Oder noch mehr Heimlichkeiten, der der Rat hinter meinem Rücken beschließt.“
„Und wie willst du das bewerkstelligen? Sämtliche Ratsmitglieder geistig manipulieren?“
„Wenn es nötig wird.“
„Du verwehrst dich zu vielen Dingen.“ Jeremy schüttelte seine Unsicherheit ab, hob den Kopf und straffte sich. „Noch steht die Mehrheit auf deiner Seite. Mit Betonung auf
noch
. Aber es werden immer mehr Stimmen laut, die nach einer anderen Richtung verlangen. Nat, ich sag’s nicht gern, aber du kommst aus einer ganz anderen Zeit als wir. Einer Zeit, die vorbei ist, und die nichts und niemand zurückholen kann.“
„Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ Nathaniel schüttelte den Kopf. „Das ist keine gerade Linie, die immer in dieselbe Richtung weiterläuft. Es ist ein Netz mit vielen Verknüpfungspunkten und Übergängen. Was, wenn die Vergangenheit unsere Zukunft ist? Wenn der Mensch sich selbst verliert, muss er dorthin zurückgehen, wo er angefangen hat. Um diesmal einen besseren Weg zu nehmen.“
„Der Weg des geringsten Widerstands ist der beste Weg.“ Jeremy verschränkte die Arme vor der Brust. „Oder sagen
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