Nathaniels Seele
nageln. Carla hat sie auf frischer Tat ertappt.“
„Da hatten die Jungs aber Glück, dass Carla es war.“
„Allerdings. Sonst hätten postwendend zwei echte Skalps am Holz gehangen.“
Josephine sah in den Abendhimmel hinauf. Die Schwalben, die ihn durchmaßen, strahlten überschwängliche Lebensfreude aus. Wie war es, so sorglos zu leben? Wie war es, ganz man selbst zu sein und seine Existenz mit schwereloser Euphorie zu verbringen? Nathaniel hatte dieses Gefühl in ihr ausgelöst, wenn auch nur für kurze Momente, bevor seine dunkle Seite die Oberhand gewonnen hatte. Sie vermisste ihn. Seinen Anblick, seine Stimme. Das elektrisierende Prickeln, das seine Nähe auslöste. Ja, er hatte recht gehabt. Sie gierte danach. Sie gierte nach dem Gefühl der Lebendigkeit. Und nach dem Kitzeln des Abenteuers.
Dachte sie an seine gebieterische Art, erwachte die Wut in ihr, gepaart mit der Entschlossenheit, ihn in seine Schranken zuweisen. Dachte sie an seine Worte im See und seinen überraschenden Kuss, löste sich die Frau in ihr in Verzückung auf. Das Spiel, das er mit ihr trieb, war ein Wechselbad der Gefühle ohnegleichen. Zorn und Verwirrung. Empörung und Verlangen.
Immer wieder sah sie ihn vor sich, liegend im Wasser. Ganz nah an ihrem Körper, verwegen lächelnd. „Sag mir, was du willst.“
Was sie wollte? Sich mit ihm messen, ihm die Stirn bieten. Mehr von dem spüren, was er sie mit seinem Kuss und seinen Berührungen hatte kosten lassen. Sie war hungrig. Auf eine wütende, herrliche Weise hungrig.
„Ich beneide Nathaniel“, sagte sie irgendwann. „Er hat seine Wurzeln. Er weiß, woran er glauben kann. Und er ist … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“
Jacob lüpfte seinen Schlapphut und kratzte sich am Haarkranz. „Meinst du frei?“
„Irgendwas in der Art.“
„Na ja, ich sag es mal so: Es ist kein Wunder, dass aus der ganzen Welt entwurzelte Pflänzchen zu seinem Volk reisen, um eine spirituelle Erkenntnis zu erhaschen. Es muss schön sein, in seinem Glauben aufgehen zu können. Damals habe ich mich in die Kirche geflüchtet, um irgendeinen Halt zu finden. Aber alles, was man mir vermittelte, war Demut vor einer personifizierten Metapher. Tu dies und tu das, verzichte auf dieses und jenes. Nur so kannst du Erlösung finden. Das war nicht gerade das, wonach ich suchte. Leben als eine Art Bewährungsstrafe sehen? Nein, danke. Das war nicht göttlich, das war einfach nur menschlich.“
„Hm“, machte Josephine. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, beobachteten das Heraufziehen der Nacht und hingen ihren Gedanken nach. Irgendwann gingen sie beide wortlos ihrer Wege, Jacob zum Pferdestall, sie zurück in das Haus. Josephine kochte sich einen Kakao, setzte sich an den Küchentisch und döste, die Kopfhörer ihres altersschwachen CD-Players in den Ohren, schläfrig vor sich hin.
Es war zehn vor elf – gerade lief Jared Letos „This is war“ – als sie aus dem Fenster sah und Nathaniels altersschwachen Jeep entdeckte.
Er war zurückgekehrt.
Josephines Herz geriet aus dem Takt. Wie lange stand sein Wagen schon da? Hatte sie derart laut Musik gehört, dass ihr das Röhren und Klappern dieses Vehikels entgangen war? Oder war sie eingeschlafen, ohne es bemerkt zu haben? Ehe die kühle Verstandesregion ihres Gehirns auch nur ansatzweise erwachen konnte, hatte das limbische System längst ein kleines Feuerwerk ausgelöst und sorgte dafür, dass sie ohne Umschweife in Richtung Stall eilte. Hastig riss sie die Schiebetür auf, in der Hoffnung, Nathaniel auf den Strohballen liegend vorzufinden. Doch nur der schlafende Noname befand sich dort, zusammengerollt zu einer perfekten Kugel.
„Nathaniel? Bist du da?“
Niemand antwortete ihr. Die Stille summte penetrant in ihren Ohren. Leise, um Jacob und die anderen Bewohner nicht zu wecken, schlich sie die Treppe hinauf, klopfte an Nathaniels Tür und lauschte. Wieder nichts. Josephine trat ein, durchforstete die Zimmer und fand weder Nathaniel noch seinen Bogen, den Köcher oder den Hund. Offenbar hatte diese Rothaut erneut das Weite gesucht. Möglicherweise war er auf der Jagd oder suchte im See nach Abkühlung.
Enttäuschung sickerte durch Josephines Eingeweide. Die Aussicht, Nathaniel wiederzusehen, war zum Nährboden für eine brennende Sehnsucht geworden. Dieser Mann war noch immer ein Fremder für sie, und doch zugleich wie ein fest verwurzelter Baum in der reißenden Strömung ihres Lebensflusses. Nathaniel gab ihr ein
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