Nathaniels Seele
Morgen hören sollen.
Mama! Da liegt ein nackter Indianer in unserem Sandkasten
.“
Nathaniel hob grinsend eine Augenbraue. „Mir scheint wirklich was zu entgehen.“
„Also, bleibst du noch? Nur wir, der Sonnenuntergang und das Meer?“
„Ich kann nicht. Du weißt, dass ich nicht nur wegen Absá zurückmuss.“ Die Gedanken, die ihn auf dem Hinflug gefoltert hatten, würden auf dem Rückflug noch qualvoller werden. Nein, köstlicher. Sein geplagter Geist gaukelte ihm den Duft erregter Weiblichkeit vor. Fast zwei Jahrhunderte Erfahrung, wie der Junge es so nett ausgedrückt hatte, nützten ihm in dieser Hinsicht rein gar nichts.
„Ah ja, die Hormone“, Jeremy seufzte. „Wann feiert ihr eigentlich mal wieder? Sag es mir und ich bin da.“
„So, wie du die letzten zehn Mal da sein wolltest? Du hast es fünf Jahre nicht geschafft, ins Reservat zu kommen.“
„Diesmal nehme ich mir die Zeit. Ich will euch alle wiedersehen. Ich will Feuer und Tänze, Lieder und Geschichten. Außerdem rückt der Zeitpunkt näher, an dem ich meinen Platz im Rat einnehme. So langsam sollte ich mich mit meiner zukünftigen Bestimmung vertraut machen.“
„In vier Tagen ist das nächste Fest.“
„Sehr gut. Verlass dich drauf, ich werde da sein. Und viel Glück mit deiner Liebsten.“
Nathaniel lächelte gedankenversunken. „Das Große Mysterium wird schon wissen, was es tut. Als ich letztens nach meiner Vision suchte, versprachen mir die Geister ewigen Frieden. Und ich glaube, sie haben recht. Nur auf andere Weise, wie ich bisher glaubte. Aber um zu normalsterblichen Dingen zurückzukehren … hier, nimm das Geld.“ Er drückte dem Jungen drei Scheine in die Hand.
„Du bist wirklich noch vom alten Schlag“, murmelte Jeremy und begaffte stur die Tischplatte. „Aber die Hälfte der Kröten nimmst du zurück. Das ist zu viel.“
„Behalt das Geld, du kannst es brauchen. Und bitte sag deinem Vater, er soll sich nicht immer den denkbar schlechtesten Moment für seine Anfälle von Tod aussuchen.“
„Was meinst du?“
„In ein paar Tagen soll über den Verkauf von Reservatsland entschieden werden. Man plant, den Running Eagle Lake touristisch zu erschließen. Wäre Joseph gestorben, hätte man seine Stelle mit jemand anderem besetzt, vermutlich still und heimlich, während ich auf Reisen bin. Und dieser jemand hätte mit Sicherheit dafür gesorgt, dass eine Mehrheit für den Verkauf stimmt. Die Gedanken unseres Stamms werden durchzogen von einem giftigen Pilzgeflecht. Immer weniger besinnen sich auf ihre Wurzeln, immer mehr sind hinter schnellem Geld her und derart verblendet, dass sie die Konsequenzen nicht sehen. Joseph ist so kostbar für den Rat, weil er noch vom alten Schlag ist. Es wird immer schwerer, Menschen wie ihn zu finden.“
Jeremy fuhr sich durch die Haarstacheln. Als er die Hände wieder in seinen Schoß fallen ließ und Zweifel in seine Augen trat, gewann Nathaniel zum ersten Mal den Eindruck, dass sein Zögling sich von ihm entfernt hatte. „Du weißt, dass ich deine Meinung in den meisten Dingen teile“, sagte Jeremy. „Aber wäre die Errichtung der Running Eagle Lodge wirklich so schlecht? Man will auf ökologischen Tourismus Wert legen. Ein paar Blockhäuser und Wanderer werden dem Wald nicht wehtun.“
„Es ist der Anfang vom Ende“, widersprach Nathaniel energisch. „Der See wird nicht mehr so sein, wie wir ihn kennen. Seine Ruhe wird zerstört werden. Den paar Häusern, von denen du redest, werden bald mehr folgen. Touristen werden durch die Wälder wandern und ihren Müll hinterlassen Selbst, wenn man Ranger einstellt, wird man nicht jeden Besucher und nicht jeden Winkel des Landes kontrollieren können. Sie wollen im Winter Schneemobile für die Touristen bereitstellen. Man wird für teures Geld Jagdausflüge anbieten, den Wald mit Wanderpfaden durchziehen, Picknickplätze errichten, Stege bauen und Strecken für Mountainbiker anlegen. Wie soll das im Einklang mit dem stehen, was uns heilig ist? Ich bitte dich. Und was ist mit uns? Wir werden zu einer Attraktion degradiert. Schwitzhüttenrituale und Selbstfindungskurse mit echten Indianern. Erleben Sie authentische Rituale und Tänze. Nehmen Sie teil am unverfälschten Leben der Ureinwohner. Ich sehe die Prospekte schon vor mir.“
„Und was ist so falsch daran, wenn man sich für unsere Art zu leben interessiert?“
Nathaniel entlud seine Wut in einer ausladenden Geste. „Sie interessieren sich nicht für unser Leben, sondern
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