Nathaniels Seele
Nathaniel drehte seine Tasse in den Händen. Früher hatte er bei solchen Gelegenheiten versucht, im Kaffeesatz die Zukunft zu lesen, doch moderne Maschinen hatten ihm diesen kleinen Spaß verdorben. „Was bezweckt sie damit? Was sind ihre Hintergedanken?“
„Genieß es einfach.“ Jeremy zuckte die Schultern. „Genieß es, solange es anhält.“
„Je höher der Flug, umso tiefer der Fall“, gab Nathaniel zu bedenken.
„Willst du deswegen prophylaktisch auf die Liebe verzichten?“
„Nein.“
„Siehst du?“
„Wenn …“ Nathaniel schauderte und knallte seine Tasse auf den Tisch. „Wenn sie es tatsächlich erlaubt, dass wir uns nahekommen, dann …“ Er rang nach Atem. Sein Puls raste. Allein der Gedanke an Josephines Körper, der eine Nacht lang allein ihm gehören würde, flutete ihn mit Hitze und ließ seine Zunge trocken am Gaumen kleben.
„Hey, ganz ruhig.“ Jeremy klopfte ihm auf die Schulter. „Nicht, dass du mir hier vor Sehnsucht platzt. Schlagsahne?“
„Nein.“
„Tja, und ich versank schon im Jammertal, weil meine Kriegslanze seit zwei Monaten vor sich hinstaubt.“
Nathaniel lachte. Erst jetzt nahm er wahr, dass er zitterte wie Espenlaub. Sein Körper löste sich in brennendem Verlangen auf. Er seufzte gequält, nahm einen Schluck vom inzwischen kalten Kaffee und sank im Sitz zurück.
„Ah ja, die Sehnsucht“, sagte der Junge. „Sie sitzt dir immer und überall im Nacken. Sie ist allgegenwärtig. Ob du wach bist oder schläfst. Ob du froh bist oder traurig. Ob du sesshaft bist oder die Welt bereist, sie ist immer da. Stehst du am Strand, sehnst du dich nach dem fernen Schiff. Bist du auf dem Schiff, sehnst du dich nach Sand unter deinen Füßen.“
„Eine Weltreise würde mir sehr wohl helfen. Ich bin ein Nomade. Ich war immer einer und werde immer einer sein. Unterwegssein hilft.“
„Nicht lange. Du wirst unweigerlich wieder bei dir selbst ankommen.“
„Ich bin geboren, um auf den Horizont zuzugehen.“
„Dann würde ich es einfach tun. Was kann schon passieren? Stalkt die alte Kuh dir hinterher?“
„Die Einzelheiten ihrer Methoden, mich unter Kontrolle zu halten, willst du nicht wissen.“
„Jetzt hast du mich neugierig gemacht.“
„Ich muss gehen.“ Nathaniel seufzte und rieb sich die Schläfen. Fieber zerkochte seinen Körper. Sehnsucht tat weh, das war ihm immer klar gewesen, aber was er jetzt empfand, wenn er an Josephine dachte, sprengte alles bisher Empfundene. Sofern Absá ihm die Nähe zu ihr tatsächlich erlaubte, würde es möglicherweise böse enden. Denn das Verlangen in ihm tobte wie ein zorniges Raubtier, riss und zerrte an den Stäben seines Käfigs und lechzte danach, befreit zu werden. Es konnte nicht allein ihm selbst entstammen. Oder etwa doch? Hatte Woksapa nichts mit diesem Ungeheuer zu tun, das sein Fleisch von innen her zerfraß? Und falls der Geist ebenso nach ihr hungerte wie er, war es dann nicht so, als begehrten zwei Männer diese Frau? Er konnte wohl kaum eifersüchtig auf sich selbst sein. Oder auf etwas, das untrennbar mit ihm vereint war.
„Jetzt schon?“ Jeremy setzte eine bedauernde Miene auf. „Ich dachte, wir fahren noch zusammen an den Strand. Nimm doch den ersten Flieger morgen früh.“
„Das wird sie nicht zulassen.“
„Ist die alte Schachtel immer noch auf Krawall gebürstet? Scheiße, dann verpasst du deinen Flieger eben rein zufällig. Sie kann dich vielleicht aus der Ferne piesacken, aber sie kann nichts von dir verlangen, was du nicht selbst herbeiführen kannst. Oder irre ich mich?“
„Du irrst dich nicht. Aber es könnte unangenehm für mich werden.“
„Großer Geist, du hast fast zwei Jahrhunderte Erfahrung in Sachen geistiger und körperlicher Beherrschung. Du bist stark genug, ihr zu widerstehen. Komm schon, Nat, meine Freunde flippen aus, wenn ich mit dir ankomme. Ich habe ihnen eine Menge von dir erzählt. Außerdem musst du meinen Mitbewohner kennenlernen. Ich sag dir, das ist der abgefahrenste Kerl, den du dir vorstellen kannst. Klar, in seinem Kopf herrscht geistige Antimaterie, aber es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, mit dem du mehr Spaß haben kannst. Gestern Nacht mixte er Whisky mit Erdbeermilchshake, war nach einer Stunde voll wie eine ganze Horde tollwütiger Cheyenne, pinkelte in meine Hausschuhe und schleppte unseren Kühlschrank in den Garten. Anschließend bettete er sich im Adamskostüm bei unseren Nachbarn zur Ruhe. Du hättest das Geschrei der Gören am nächsten
Weitere Kostenlose Bücher