Nathaniels Seele
wir, der gesündeste.“
„Falsch. Aber ich muss jetzt los. Der Flieger wartet auf mich.“ Nathaniel verließ das Café ohne ein weiteres Wort und verbotes sich, dem nagenden Gefühl der Enttäuschung nachzugeben. Vielleicht hatte Jeremy zu lange die Verlockungen dieser Stadt gekostet. In manchen seiner Worte lag eine bittere Wahrheit, vor der er die Augen nicht verschließen konnte. Immer klarer wurde die Gewissheit, dass der Tag nahte, an dem niemand mehr seine Hilfe wollte. Der Stamm würde seinen eigenen Weg gehen und die alten Pfade gänzlich verlassen. Seine Aufgabe würde überflüssig werden. Und doch hoffte Nathaniel inständig, Jeremys Leidenschaft für den unverfälschten Weg wieder erwachen zu sehen. Spätestens, wenn er in das Reservat zurückkehren würde, um den ihm vorbestimmten Platz im Stammesrat einzunehmen.
Nathaniel zwang sich, an schönere Dinge zu denken. Heute Abend schon sah er Josephine wieder. Was sollte er tun? Was zu ihr sagen?
Das Fieber in ihm beantwortete die Frage schnell: Er würde es versuchen. Noch in dieser Nacht. Mochte deshalb geschehen, was auch immer geschehen wollte. Auch Josephine begehrte ihn. Der wunderbare Duft ihrer Pheromone hatte sich in seinem Geist eingebrannt. Süß, köstlich und unwiderstehlich. Nach seiner Nähe schreiend. Sich windend vor Sehnsucht.
Als er sich noch einmal umwandte, winkte Jeremy ihm zu. Wird schon, sagte der Blick des Jungen, und Nathaniel antwortete mit einem Nicken.
Josephine hasste diese Aufgabe. Selbst im November eigenhändig eines der Schweine zu schlachten, war leichter zu ertragen als dieser Verrat. Gemeinsam mit Jacob trieb sie die zuvor in ein Gatter abgesonderten Bullen auf den wartenden Transporter und half der Trägheit der Tiere mit Zungenschnalzern und wedelnden Armen nach. Daran gewöhnt, Menschen blind zu vertrauen, trotteten die Rinder die Rampe hinauf und wurden erst dann nervös, als die Klappe hinter ihnen geschlossen wurde.
Bis zum Herbst würde es so weitergehen. Jede Woche zehn Bullen. So lange, bis die Herde, die sie über Monate hinweg umsorgt und gehegt hatten, restlos verkauft war. Im Frühling würden sie in die Stadt fahren und mit zwei Transportern voller Kälber zurückkommen. Sie würden die Tiere brandmarken, mit Ohrclips versehen und impfen lassen, um das Spiel von vorn zu beginnen.
Josephine blickte, die Hände tief in den Taschen ihrer schmutzigen Jeans vergraben, dem davonrumpelnden Transporter nach. Behäbig kämpfte sich der Wagen die gewundene Anfahrtsstraße hinauf, tuckerte dem Wald entgegen und verschwand schließlich in dessen tiefer werdender Dämmerung.
„Was ist los, Kleines?“ Jacob blieb Josephines abkühlende Stimmung nicht verborgen. Fürsorglich legte er seine Hand auf ihre Schulter.
„Ich habe heute die geistig umnachteten Zwillinge gefeuert“, antwortete sie.
„Warum? Nicht, dass ich sie nicht auch für unerträglich blöd halte, aber sie konnten ordentlich anpacken.“
„Carla erzählte mir, dass sie vor ein paar Tagen Noname fangen wollten, um ihm ein Marmeladenbrot auf den Rücken zu binden. Das sind Kinder, keine Helfer.“
„Wozu denn das?“
„Kennst du nicht den uralten Witz mit der Katze und dem Marmeladenbrot?“
„Nein.“
„Es ist ein Naturgesetz, dass die Katze immer auf den Füßen landet und ein Marmeladenbrot immer auf der Marmeladenseite.“
„Nicht immer. Erinnerst du dich noch, als Noname vom Traktor gefallen ist? Ich dachte, er hätte sich alle Knochen gebrochen.“
„Noname ist auch keine normale Katze. Jedenfalls gibt es Versuche dahin gehend, was passiert, wenn man einer Katze so ein Brot auf den Rücken bindet. Welches Gesetz ist stärker? Dass die Katze auf den Füßen landet oder das Brot auf der Marmeladenseite. Wenigstens war Noname zu schlau, um sich fangen zu lassen.“
„Es ging aber nicht nur darum.“
„Nein. Gestern erwischte Carla die beiden, wie sie versuchten, Schnecken zu braten. Mit einer Lupe. Sie hatten das Ding mit aufs Feld genommen, sammelten in der Pause Schnecken und versuchten, sie mithilfe der Lupe zu schmoren.“
„Hat es geklappt?“
„Sie schafften es, drei der armen Dinger zu meucheln, pulten sie aus ihren Häusern und aßen sie halbroh.“
„Ohne Kräuterbutter?“
Josephine verpasste Jacob einen sanften Schlag in die Rippen. „Ich kann solche Idioten hier nicht gebrauchen. Und wenn sie noch so tüchtig sind. Außerdem fanden sie es witzig, heute Morgen eine Perücke an Nathaniels Tür zu
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