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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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„Bitte, du musst es versprechen.“
    „Befiehl es mir doch einfach. Das hast du doch gut drauf.“
    „Also gut. Ich befehle dir, hierzubleiben.“ Nathaniel setzte ein entwaffnendes Lächeln auf. Zwei Sekunden sah sie zu ihm auf, blickte in seine verzweifelten, vom Lächeln unberührten Augen – und nahm eine Handvoll Stroh, um ihn zu bewerfen.
    „Geh, verdammt noch mal. Tu, was du tun musst. Und wenn du zurückkommst, dann reden wir ein ernstes Wort miteinander. Nur damit das …“
    Josephine stutzte. Ihr Blick fiel auf ihre erhobene Hand. Noch immer klebten Blutkrusten darauf, doch der hässliche Schnitt des Splitters war verschwunden. Entgeistert starrte sie auf die unversehrte Haut.
    „Wir werden reden.“ Nathaniel nickte, fuhr herum und verschwand so schnell, wie sie es von ihm gewöhnt war. Das Klappen der Tür erklang, dann das Knarzen der Stufen unter seinen Schritten.
    „Was zum Teufel ist hier los?“ Der Finger verschwamm vor ihren Augen. Kein Schorf war zu sehen. Keine Narbe. Einfach nichts. Schwankend stand sie auf, schlüpfte in ihre Kleidung und taumelte in den Gang. Sie hatte sich die Wunde nicht eingebildet. Genauso wenig wie der gebrochene Fuß eine Illusion gewesen war. Aber wie war das möglich? Was in aller Welt hatte diese Rothaut mit ihr angestellt? Selbst uralter Schamanen-Hokus-Pokus stieß an seine Grenzen, wenn es um das Wegzaubern von Wunden ging.
    Josephine atmete tief ein und ließ ihren Blick schweifen. Auf dem Boden lag noch der Pfeil. Sie hob ihn auf. An seiner eisernen Spitze klebte Blut. Zäh und rot glänzte es auf ihrem Finger, als sie darüberstrich.
    Ihr Verstand stand vor einem Puzzle. Sie wusste zwar, wohin die Teile gehörten, und doch wagte sie nicht, sie zusammenzusetzen. Seine Wunde, die plötzlich verschwunden war … Rätsel Nummer eins. Ihr Fuß, eindeutig gebrochen und durch seine Berührung geheilt. Der Splitter in ihrem Finger … Rätsel Nummer zwei. Das Blutritual und sein Krampfanfall, seine Aussage, er könne nicht krank werden … Rätsel Nummer drei und vier.
    Was fehlte noch zu diesem ungeheuerlichen Bild, das sich schleichend manifestierte? Seine Magie im Umgang mit Pferden. Der scheue Vogel, der aus dem Dunkel der Nacht hervorgekommen war, um sich zutraulich auf seinen Arm zu setzen. Das Gefühl, das sie stets in seiner Nähe packte. Als würde sich ein blinder Spiegel klären und ein Tor zu den Tiefen seines Unterbewusstseins öffnen, um ihr einen Blick auf uraltes Wissen zu erlauben. Seine Sehnsucht nach alten Zeiten. Die Brandmarkung jener Zeiten, die jetzt, da sie die Wahrheit in Betracht zog, unübersehbar war.
    Als sie ihn das erste Mal erblickt hatte, war ihr bereits klar geworden, dass er nicht hierhergehörte. Er war wie ein Relikt, hergeholt aus einer vergangenen Zeit. Gewaltsam hinübergezerrt in die Moderne.
    „Großer Gott. Nicht auch noch das. Bitte, lass mir wenigstens den Verstand. Ich will nicht durchdrehen. Bitte.“
    Josephine hockte sich auf die Verandatreppe und starrte in die Nacht. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit jenseits der Weiden. Es war Chinook, Nathaniels Hund. Als hätte er ihre Verwirrung gewittert, trabte er auf sie zu, setzte sich neben sie und legte den Kopf auf ihren Oberschenkel.
    „Was ist?“, murmelte Josephine. „Willst du mir beistehen? Willst du mir irgendetwas über deinen Freund verraten?“
    Während sie das dichte, seltsam gefärbte Fell mit den Fingern durchkämmte, zog ihr Unterbewusstsein ungeheure Möglichkeiten in Betracht. Ihr Verstand sträubte sich mit Vehemenz gegen die Akzeptanz derselben. Warum sprachen beide Stimmen so selten dieselbe Sprache? Instinkt, Bauchgefühl. Vernunft, Logik. Die erste Stimme tastete sich in unbekanntes Gebiet vor, furchtlos und unvoreingenommen. Die zweite schlich zögernd hinterher, wollte sie zurückziehen, ihr sagen, welche Wege zu beschreiten waren und welche man besser im Dunkeln ließ.
    Wenn sie alle Absonderlichkeiten zusammenzählte und auf einen ungeheuerlichen Nenner brachte, würde ihr rationaler Verstand daran scheitern?
    Sie schloss die Augen und spürte seine Hände, seine Küsse, sein Haar auf ihrer nackten Haut. Den köstlichen Druck, als er in sie eingedrungen war. Sie kostete den Nachhall der Ekstase und den Geschmack seines Schweißes auf ihrer Zunge. Ihr Körper fühlte sich wund und übermäßig empfindsam an.
    Seufzer, raues Atmen, sich ineinander verschlingende Glieder. Elfenbein und Bronze. Geraunte Worte, denen sie vertraut

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