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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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und das Bewusstsein, die Ruhe eines Toten zu stören.
    „Es muss hier drin sein“, flüsterte Mario, packte mit beiden Händen einen glitschigen Brocken und hievte ihn beiseite. „Das Grab sieht aus, als hätte sich ewig keiner mehr daran zu schaffen gemacht.“
    „Schön wär’s“, sagte Jorge. Er nahm eine Feder auf und betrachtete sie. Ihr Kiel war mit Lederbändchen und Perlenschnüren verziert. „Aber es ist nicht richtig, was wir tun.“
    „Nein“, bestätigte Mario zerknirscht. „Aber du weißt, was uns blüht, wenn wir versagen. Wir müssen das durchziehen.“
    „Denkst du wirklich, dass er …“ Jorge berührte mit der Feder seine Lippen. „Denkst du, dass er unseren Familien zu Leibe rückt?“
    „Er ist Anwalt“, gab Mario zu bedenken und wuchtete einen weiteren Stein weg.
    Jorge nickte, legte den Kopf in den Nacken und starrte zum Mond hinauf. Was zum Teufel war los mit ihm? Das letzte Mal hatte er ihn so entrückt erlebt, als sie nach einer Studentenfeier begriffen hatten, dass man Hanf besser nicht pur rauchte.
    „Hilf mir endlich, verdammt“, herrschte er seinen Bruder an.„Was ist los mir dir?“
    „Nichts“, Jorge seufzte und ließ die Feder sinken. „Oder doch.“
    „Schnauze, Mann. Hilf mir lieber.“
    Er wuchtete den nächsten Stein beiseite und nahm sich einen weiteren vor. Gerade als er glaubte, das bleiche Schimmern von Knochen zu entdecken, vibrierte es in seiner Hosentasche.
    „Scheiße.“ Mario zerrte das Handy hervor, drückte den grün leuchtenden Knopf und flüstere ein „Ja?“ in das Gerät.
    „Rückzug“, blaffte Hazlewood, offenbar im Auto unterwegs, denn Verkehrsgeräusche dröhnten im Hintergrund. „Was immer ihr gerade tun, schwingt euren Arsch zurück nach Great Falls.“
    Mario stutzte. Derart aufgewühlt hatte er den alten Sack nie erlebt. Etwas Gehetztes klang in seiner Stimme mit. Gepaart mit Wut, Erregung und Ungeduld. So viele Emotionen auf einmal. Das war seltsam, äußerst seltsam.
    „Aber Sir.“ Mario räusperte sich. „Wir haben es gefunden.“
    „Das Grab?“
    „Ja. Es liegt unterhalb der Felsen, die man … wie nennt man sie hier, Jorge?“
    „Adlerschnabel.“
    „Man nennt die Felsen hier in der Gegend Adlerschnabel-Formation. Verdammt verwinkelt und schlecht einzusehen. Ein ideales Versteck. Wir waren schon mal hier, fanden beim ersten Mal aber nicht heraus, wie verwinkelt sie wirklich sind. Man muss bis ganz nach unten, erst dann sieht man, wo die Schlucht sich öffnet.“
    „Aha.“
    Als Mario bewusst wurde, wie abwesend die Stimme des Anwalts klang, loderte Zorn in ihm auf. Sie hatten Kopf und Kragen und sämtliche Knochen riskiert, um dieses verdammte Ding zu finden. Sie hatten ihren Kopf bereitwillig in die Schlinge gelegt – nein, direkt in das Maul des Löwen, und jetzt interessierte es ihn plötzlich nicht mehr? Mario hätte Hazlewood nur zu gern seinen Abscheu entgegengeschrien, verbunden mit den unflätigsten Schimpfwörtern, die seine Großmutter ihm beigebracht hatte, doch stattdessen sagte er gefasst: „Wir durchsuchen es gerade.“
    „Rückzug“, wiederholte der Anwalt. Im Hintergrund hupte jemand und brüllte „Arschloch“, gefolgt von einer entsprechenden Entgegnung Hazlewoods. „Wir müssen die Sache neu besprechen. Das Gefäß ist kein Gefäß. Nicht im herkömmlichen Sinne.“
    „Hä?“ Mario fing den Blick seines Bruders ein und runzelte die Stirn. „Das Gefäß ist kein Gefäß?“
    Jorge zog ob dieser Worte eine perplexe Grimasse. „Wie meint er das?“, zischte er leise.
    „Wie meinen Sie das? Wollen Sie sagen, dass wir nach etwas suchen, dass es nicht gibt?“
    „Das Gefäß existiert“, brüllte Hazlewood derart lautstark aus dem Handy, dass die Felsen das Echo seiner Stimme zurückwarfen. „Es ist nur kein wortwörtliches Gefäß. Es ist weder ein Kelch noch eine Schachtel noch sonst was in der Art. Es ist ein Mensch.“
    „Ein was?“ Mario grinste Jorge an und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Sie meinen, das Gefäß ist ein Mensch? So wie Maria Magdalena der Heilige Gral sein soll?“
    „Ja. Es ist derselbe Kerl, der auf euch geschossen hat. Ich habe sie gesehen, die Pfeile mit den roten Federn. Ich habe gesehen, was dieser Mann …“ Hazlewood fluchte etwas Unverständliches, räusperte sich und fuhr mit bebender Stimme fort: „Ich habe gesehen, wozu er fähig ist. Er ist es. Er muss es sein. So ergibt auch der Rest einen Sinn. Aber es ist eine Sache, ein Gefäß

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