Nathaniels Seele
aufzusammeln, und eine ganz andere, einen Menschen zu entführen.“
„Sie wollen …“ Mario verspürte plötzliche Übelkeit in seinem Magen. „Das wollen Sie doch nicht im Ernst in Erwägung ziehen?“
„Ich will dieses Gefäß“, fauchte Hazlewood. „Ich brauche es. Egal, was oder wer es ist. Und jetzt schwingt eure Hufe, wir müssen reden.“ Ein Klicken ertönte, dann war es still.
„Scheiße.“ Mario stopfte das Handy zurück in die Hosentasche und versuchte, seine kippende Beherrschung zu bewahren. „Scheiße. Große Scheiße. Das darf doch nicht wahr sein. Ich habe die Nase voll. Ich habe sie so was von voll. Mir reicht’s mit diesem alten Sack.“
„Ist er jetzt völlig übergeschnappt?“ Jorge kaute auf seiner Unterlippe herum.
„Oh ja, das ist er.“ Mario massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Die Schlinge, die ohnehin bereits zu fest um seinen Hals lag und ihm das Atmen schwer machte, zog sich enger zusammen. Er würde bei diesem ganzen Mist draufgehen. Und seine Familie gleich mit. „Jetzt stecken wir richtig in der Scheiße.“
„Mario, wie meinte er das gerade?“
„Er will, dass wir jemanden einsacken und zu ihm bringen. Er glaubt, das Gefäß sei ein Mensch.“
Jorge stöhnte. Die Momente, in denen sie sich schweigend anstarrten, zogen sich zu Ewigkeiten.
„Das ist Freiheitsberaubung“, flüsterte sein Bruder schließlich. „Darauf steht deutlich mehr als auf das Betreten fremder Grundstücke. Das hier hätte uns im schlimmsten Fall eine Geldstrafe eingebracht. Aber jemanden zu entführen? Nein. Niemals. Vergiss es.“
„Wir haben keine Wahl“, gab Mario zu bedenken. „Du kennst ihn. Du kennst seine Mittel und Wege.“
„Nein.“
„Jorge, bitte …“
Ein Knacken ließ sie herumfahren. Mario riss die Taschenlampe hoch und ließ den Strahl durch die nebelverhangene Dunkelheit huschen. Im Licht erschien die Umgebung noch feindlicher. Schroffe Felsen glänzten schwarz. Tropfen, herabfallend von Zweigen, funkelten gespenstisch.
„Was war das?“, wisperte Jorge. „Scheiße, was war das?“
„Vielleicht hat uns jemand entdeckt.“
In Mario regte sich eine absurde Hoffnung. Wenn man sie jetzt entdeckte, wurden sie für Hazlewood vielleicht uninteressant. Wenn man ihre Gesichter hier kannte, würden sie ihre Aufgabe nicht durchziehen können. Es war eine Möglichkeit. Ja, das war es durchaus.
„Hallo?“, rief er in die Nacht. „Ist da jemand?“
„Spinnst du?“ Jorge stieß ihn heftig vor die Brust. „Wer weiß, wen du … oh Gott! Da!“
Der Strahl der Taschenlampe war über eine schwarze, menschliche Gestalt gehuscht. Mario schnappte nach Luft und ließ das Licht zurückgleiten, dorthin, wo die dürren Tannen besonders dicht standen und einen Hain bildeten. Die Gestalt war noch immer dort. Groß, schlank und bewaffnet. Mit einem Bogen.
„Jesus“, keuchte Jorge. „Wer ist das?“
Der Mann strich sich das lange Haar zurück. Er griff nach hinten, zog einen Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn mit seelenruhiger Gelassenheit auf die Sehne. Dieser Kerl wollte auf sie schießen. Verdammt. Vermutlich war er derselbe, der schon einmal versucht hatte, sie um die Ecke zu bringen. Was bedeutete, dass es der Mann war, auf den Hazlewood es abgesehen hatte. Das Gefäß.
Mario gefror zur Salzsäule. Sein Bruder fluchte etwas Unverständliches, zerrte den Revolver aus dem Halfter und schoss. Dröhnend hallte der Schuss durch die Schlucht. Noch ehe sein Echo verklungen war, ließ Mario den Strahl erneut die Dunkelheit durchdringen. Der Mann war verschwunden. Doch getroffen hatten sie ihn wohl kaum, denn das Geräusch einer in Fleisch einschlagenden Kugel war unverkennbar.
„Da“, keuchte Mario. „Er ist da hinten.“
Er glaubte, einen Schatten zwischen den Felsen zu erblicken. Funken stoben auf, als die zweite Kugel krachend im Stein einschlug.
„Scheiße.“ Jorge drehte sich hyperventilierend um die eigene Achse. „Wer ist das? Will der uns umbringen? Verdammt, Mario, es war eine Scheißidee, hierherzukommen.“
Wieder ein Schuss. Trügerische Stille, die auf das verhallende Echo folgte.
Plötzlich flog ein Pfeil aus der Dunkelheit heran. Er traf Jorges Waffe und schleuderte sie ihm aus der Hand. Ein zweiter, unmittelbar folgender streifte ihn am Oberarm. Jorge schrie auf. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, als er sie auf die Wunde presste.
Mario riss seine Waffe hoch. Vor ihm schälte sich ein Geist aus der Finsternis.
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