Nathaniels Seele
hatte.
Chinooks Seufzer, der den Hundeleib beben ließ, riss Josephine in die Wirklichkeit zurück. Sie blickte auf und sah eine Gestalt über die Wiese huschen. Es war Nathaniel, ganz in Schwarz gekleidet und erneut mit Bogen und Köcher bewaffnet. Er rannte am Weidezaun entlang, bog nach rechts ab und schwenkte über die Wiese zum Waldrand. Mehrmals wandte er sich um und blickte zur Farm, als befürchte er, sie könnte ihm folgen.
„Was bist du?“, flüsterte sie, als er in der Dunkelheit verschwand. „Wir werden reden, wenn du zurückkommst. Oh ja, wir werden reden. Und ich lasse dich nicht gehen, ehe ich nicht die Wahrheit kenne. Zur Not lege ich dir Fesseln an.“
Josephine schob Chinook beiseite, ging ins Haus und verharrte. Ihr Blick heftete sich auf die Garderobe.
Folge ihm!
, raunte eine Stimme.
Folge ihm und sieh dir an, was er vor dir versteckt
.
Sie schüttelte den Kopf. Rieb sich die Schläfen und versuchte, den Schleier über ihrem Bewusstsein fortzuwischen, der sich ohne Vorwarnung darüber gesenkt hatte. Doch als ihr Geist sich klärte, hatte sie bereits die schwarze Regenjacke übergezogen. Getrieben von einem Willen, der nicht aus ihr zu kommen schien, schlüpfte Josephine nach draußen. Die Nacht war überraschend kalt für August. Prachtvoll wölbte sich die Milchstraße über das Firmament, so klar, als hätte der Mensch die Nacht niemals mit Licht erfüllt. Sie sah den vollen Erntemond über dem Wald schweben, orangerot und riesenhaft groß. Josephine fühlte sich, als wären Körper und Willen voneinander getrennt worden. Blicke bohrten sich in ihren Nacken, wartend darauf, dass sie ihrer Neugier nachgab. Lockend und reizend.
Folge ihm! Ich zeige dir, wo er ist
.
Sie rannte los. Losgelöst von sich selbst und einem unwiderstehlichen Willen gehorchend.
„Da!“ Mario blaffte das Wort so lautstark, dass Jorge warnend den Finger auf seinen Mund legte. „Das sieht doch nach was aus“, fügte er leiser hinzu. „Was meinst du? Das ist es. Oder nicht?“
Der Strahl der Taschenlampe huschte über eine Anhäufung aus Steinen. Verborgen zwischen drei mächtigen Felsen, von deren Moosvorhängen Wasser tropfte, bildeten sie eine Pyramide. Mario deutete auf eine Art Traumfänger, der am Ast der Felsgebirgstanne baumelte, flankiert von zwei Bündeln getrocknetem Tabak. Auf den Steinen lag ein Sammelsurium an folkloristischem Ramsch. Angefangen von Federn über ein Skunkfell bis zu üppig geschmückten Rasseln und Totemfiguren. An einem Stock, der sich über das Grab neigte, baumelte ein lederner, fransenbesetzter Beutel.
„Das ist es. Scheiße, das ist es.“ Mario stieß einen Seufzer aus, in dem sich Erleichterung und Misstrauen vereinten. Nach einem anstrengenden Abstieg, der sie über glitschige Felsen und von Geröll übersäte Abhänge geführt hatte, wagte er es kaum, sich an diese Hoffnung zu klammern. Ihre Hände und Knie waren blutig, ihre Hosen zerrissen. Ein tiefer Riss prangte auf seiner Wange, während Jorge bei jedem Schritt unterdrückt jammerte. Die Wurzel, an der sein Bruder sich hatte festklammern wollen, war leider eine Spur zu morsch gewesen. Und so war er zwar sehr viel schneller als Mario hier unten gelandet, allerdings auch ramponierter.
„Das will ich hoffen.“ knurrte Jorge. „Ich habe langsam die Nase voll. Aber so was von.“
„Das ist es. Verlass dich drauf.“ Mario kam seine Großmutter in den Sinn, deren Aberglauben ihn durch Kindheit und Jugend begleitet hatte. Etwas Urtümliches umgab diesen Ort, dessen Finsternis nicht in der Dunkelheit begründet lag. Über den nassen, steinigen Boden der Schlucht krochen Finger aus Nebel. Das Stakkato fallender Tropfen durchdrang eine gähnende Stille, die über allem lag und den Eindruck erweckte, als wäre sie im Laufe der Jahrhunderte zu lähmender Schwere konzentriert worden. Nässe glänzte auf Tannennadeln, Überhängen aus Moos und schroffem Fels. Kein Windhauch ging. Ein Leichentuch aus Tod, Moder und Geheimnis lag über diesem Ort. Seine Großmutter wäre an diesem Ort vermutlich sämtliche ihr bekannten Gebete losgeworden. Und sie hätte, kaum diesem Ort entronnen, schaurige, poetische Geschichten erzählt, die einem das Herz in die Hose rutschen ließen.
„Los“, zischte Mario und legte seinen Rucksack ab. „Hilf mir.“
Jorge ging neben ihm in die Knie. Gemeinsam trugen sie Stein für Stein ab, stets mit dem Gefühl einer boshaften Präsenz im Nacken, hervorgerufen durch die Stille, den Nebel
Weitere Kostenlose Bücher