Nathaniels Seele
Ein schwarzer, drohender Schatten, der auf ihn zuschritt. Der Mann legte Bogen und Köcher auf den Boden und lächelte. Dieser gottverdammte Scheißkerl lächelte. Schwarz war seine Kleidung. Schwarze Wildlederhose, schwarzes Hemd. Silberne Ohrringe. Irgendetwas baumelte auf seiner Brust, das aussah wie dieser Ramsch auf dem Grab. Mario begegnete dem Blick des Mannes und fühlte, wie Todesangst ihre kalten Finger nach ihm ausstreckte. Er war wehrhaft, er konnte kämpfen, doch irgendetwas flüsterte ihm ein, dass er keine Chance hatte. Er fühlte sich wie ein Hase, der vor einem Puma stand. Nicht einmal die Waffe in seiner Hand vermittelte Sicherheit.
Mario entlud seine Angst in einem Schrei und schoss. Der Mann wich zur Seite, so schnell, dass es eigentlich unmöglich war. Die Kugel schlug in einen Baumstamm und ließ Holzspäne zu Boden rieseln. Wieder schoss er, bis das Magazin leer war. Zweimal landete er Treffer, doch entlockte diese Tatsache dem Kerl nicht einmal ein Zucken. Sein Verstand wollte nicht akzeptieren, was der Instinkt längst begriffen hatte. Mario klammerte sich an dem Trugschluss fest, es wäre ein Mensch, der vor ihm stand, denn ein Mensch war verwundbar. Einen Menschen konnte er besiegen.
Plötzlich war der Kerl bei ihm. Mario wollte ihn mit einem Tritt zu Fall bringen, doch sein Gegner wich mit schattenhafter Schnelligkeit aus. Seine langjährige Erfahrung funktionierte unabhängig von Angst, sodass Mario den plötzlich gegen ihn gerichteten Schwung geschickt abfing, herumwirbelte und es mit einem Nierenschwinger versuchte. Erst im letzten Augenblick, als er bereits die Berührung spürte, wurde sein Arm abgefangen und zur Seite geschlagen. Mario taumelte. Wieder bewahrte ihn sein instinktiv funktionierender Körper vor einem Sturz. Er fuhr herum und traktierte seinen Gegner mit mehreren Schlägen und Fußtritten, doch jeder Versuch wurde mit einer Mühelosigkeit abgeblockt, die seine Angst einem verzweifelten Zorn weichen ließ. Dieser Mistkerl spielte mit ihm. Seine tänzerische Leichtigkeit, mit der er jeden Angriff parierte, gab Mario das Gefühl, absolut nichts zu können. Einen Augenblick durchzuckte ihn Hoffnung, als es ihm gelang, den Mann von hinten zu umklammern und seine Arme zu fixieren, doch eher er sich versah, rammte sich ein Ellbogen in seinen Magen. Mit Schwung wurde über die Schulter des Kerls zu Boden geworfen und krachte zu Boden.
„Jorge, verdammt! Hilf mir.“
Mario sprang hoch und fing einen Schlag ab, der seinem Nacken gegolten hatte. Er drückte den Arm des Mannes beiseite und schwang seine freie Faust gegen dessen ungeschützte Seite, um ihm die Rippen zu brechen. Ehe er die Bewegung vollenden konnte, wurden ihm die Beine unter dem Körper weggeschlagen. Er stürzte, wurde aufgefangen, hochgezerrt und an der Kehle gepackt. Keine drei Schritte neben ihm stand Jorge, reglos, das Gesicht zu einer Maske des Schreckens verzerrt.
„Nein“, keuchte Mario. „Bitte nicht. Ich … ich will nicht sterben. Meine Familie … ich habe Frau und Kinder. Bitte nicht. Bring mich nicht um.“
„Sieh mich an.“ Die dunkle, hypnotische Stimme wehte durch seinen Kopf. Er hatte sie nicht gehört, nicht wirklich, so wie man Stimmen normalerweise hörte. Sie war in ihm drin. Wie ein Echo seiner eigenen Gedanken.
„Nein“, wimmerte er.
„Sieh mich an.“
Mario gehorchte. Er versank in den abgrundtief schwarzen Augen des Mannes. Diese Schwärze sog ihn auf, umschloss ihn und ließ ihn jedes Körpergefühl verlieren. Großer Gott, er würde sterben. Fühlte sich so nicht der Tod an? Finster und endgültig? Er dachte an seine Frau, an seine Kinder, seine Großmutter und an alle Gebete, die ihm auf die Schnelle einfielen. Dann sog ihn das Nichts in sich auf.
Als er zu sich kam, lag er am Rande einer unbefestigten Straße. Neben ihm hockte Jorge auf seinem Hinterteil, hielt sich den blutenden Arm und blinzelte zum Mond hinauf.
„Was ist passiert?“ Mario war sicher, niemals solche Kopfschmerzen empfunden zu haben. Sein Gehirn pulsierte. Es drückte sich gegen den Schädel und schien mit jedem Atemzug größer zu werden. „Wo sind wir?“
„Keine Ahnung.“ murmelte Jorge.
„Wie sind wir hierhergekommen?“
„Keine Ahnung.“
„Scheiße.“ Seine Erinnerung glich einem schwarzen Loch. Irgendetwas war passiert. Irgendetwas hatte sie in diesen Wald geführt, aber was? In seinem vor Schmerz pochenden Gehirn gähnte Leere.
„Was ist das Letzte, an das du dich
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