"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
tragen, für eine ständige Gefährdung. Als Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in einer noblen Boutique am Hamburger Jungfernstieg einen weißen Shetland-Pullover anprobierte und dafür ihre Jacke ablegte, fiel der Verkäuferin deren hohes Gewicht auf. Als sie die Konturen einer Pistole ertastet hatte, rief ihre Chefin die Polizei. Die Festnahme von Ensslin war dann Formsache.
Festnahme von Holger Meins in Frankfurt, 1. Juni 1972.
Zwei Tage, nachdem die wichtigste Organisatorin der RAF ausgeschaltet war, nahm die West-Berliner Polizei Brigitte Mohnhaupt, die Residentin der RAF in der Mauerstadt, zusammen mit einem Gefährten fest. 13 Die nächsten, die den Fahndern sechs Tage später ins Netz gingen, waren Ulrike Meinhof und Gerhard Müller. Ein Lehrer und Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, bei dem sie übernachten wollten, hatte die Polizei informiert.
In der Jacke von Ulrike Meinhof fanden Polizisten einen Brief, zwei Seiten lang, mit einer Schreibmaschine eng beschrieben. Er stammte von der inhaftierten Gudrun Ensslin. Sie ordnete darin an, welche konspirativen Wohnungen geräumt werden sollten und wer jetzt welche Jobs zu übernehmen habe. Über ihre Verhaftung schrieb Ensslin: »Ich gepennt, sonst wäre jetzt eine Verkäuferin tot (Geisel), ich und vielleicht zwei Bullen, der Laden voll mit Bullen, am Rand der Straße drei Bullenautos, also echt unklar, ob ich weggekommen wäre.« Horst Mahler, der schon fast zwei Jahre in Berlin im Gefängnis saß, gab Durchhalteparolen aus: »Ihr lebt. Das zählt«, schrieb er an Ensslin. »Das, was schon bisher geleistet wurde, ist enorm, und das ist erst der Anfang.«
Nachdem im Juli Irmgard Möller und Klaus Jünschke in Offenbach verhaftet worden waren, saß im Sommer 1972 nahezu die gesamte RAF hinter Gittern. »Dass sie uns nicht kriegen«, hatte Ulrike Meinhof zwei Jahre zuvor gesagt, »das gehört sozusagen zum Erfolg der Geschichte.« Jetzt waren bis auf vier alle der mindestens 33 RAF-Mitglieder tot oder gefangen. Die RAF war auf ganzer Linie gescheitert. So schien es jedenfalls.
Die Bundesregierung Willy Brandts und besonders der liberale Innenminister Hans-Dietrich Genscher konnten nach der Verhaftungswelle erst einmal aufatmen. Beständig hatten Christdemokraten ihnen Untätigkeit vorgeworfen. »Müssen denn noch mehr Leute von Bomben zerrissen werden«, hatte CSU-Chef Franz Josef Strauß gepoltert, »bis bei uns einmal etwas geschieht?« Walter Scheel, liberaler Außenminister und Vizekanzler, erklärte im Sommer 1972 erleichtert: »Das Problem Baader-Meinhof ist erledigt.«
Kapitel 4
Der Kampf geht weiter
Wenn Marieluise Becker im Jahr 1973 ihren Mandanten Andreas Baader im Gefängnis Schwalmstadt besuchte, wurden zunächst ihre Tasche und ihre Unterlagen gründlich durchsucht. Dann musste die Heidelberger Anwältin sich bis auf die Unterhose und den BH ausziehen. Schließlich schaute eine Wachtmeisterin ihr vorne und hinten in den Slip. »Nach einer derart erniedrigenden Behandlung«, sagt Becker, »kam einem das Wort vom ›faschistischen Staat‹ leicht über die Lippen.«
So wie die Anwältin sahen es manche Linksradikale, nicht lange nachdem die Gründer der RAF im Sommer 1972 verhaftet und über die Gefängnisse der ganzen Republik verteilt worden waren. »Man glaubte allgemein«, erinnert sich Gerhart Baum, damals Staatssekretär im Bundesinnenministerium, »das Problem habe sich erledigt.« 1 Die Terrorgruppe erschien zu diesem Zeitpunkt nicht nur ihm als Irrläufer der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte; eine kurze düstere Episode, die nun zum Glück abgehakt war.
Es sollte anders kommen, und dafür sorgten nicht zuletzt die harten Haftbedingungen der RAF-Mitglieder. Die meisten wurden innerhalb der Gefängnisse konsequent isoliert. Sie durften nicht an Gemeinschaftsveranstaltungen teilnehmen; waren beim Hofgang alleine. Kamen Verwandte oder Freunde zu Besuch, saßen BKA-Beamte dabei. Hinterher wurden gewöhnlich die Gefangenen und ihre Zellen durchsucht.
Besonders weit ging die Anstaltsleitung in Köln-Ossendorf. Zunächst wurde Astrid Proll in einem »toten Trakt« untergebracht. Sie saß allein in einem leer geräumten Gefängnisflügel. »Ich dachte zunächst, sie übertreibt das mit den Haftbedingungen und deren Auswirkungen«, erinnert sich Ulrich K. Preuß, damals ihr Anwalt, heute Professor an der Berliner Hertie School of Governance. »Doch sie war oft völlig desorientiert.« Preuß begann, über
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