"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Palestine Liberation Organization (PLO) Jassir Arafats. In einem der PLO unterstehenden Lager in Jordanien hatten schon die RAF-Gründer schießen gelernt. Jetzt sollten zwei Palästinenser und zwei RAF-Leute in Amsterdam an Bord eines israelischen Flugzeugs gehen und es entführen. Das Kommando wartete nur noch auf das Startzeichen von Abu Hassan, einem Vertrauten von Jassir Arafat. Doch der zögerte die Aktion hinaus. Warum er sie hingehalten hatte, verstanden die RAF-Illegalen erst Anfang Oktober 1973 - als am Jom-Kippur-Tag ägyptische und syrische Truppen Israel angriffen.
Die Wiederaufbaugruppe nahm in Frankfurt mit dem Mann Kontakt auf, der die Bombenhülsen für die Attentatsserie vom Mai 1972 geschweißt hatte. Auch andere Unterstützer der ersten Generation wurden angesprochen. Aus einem Depot holte die Gruppe ein paar Pistolen und Blanko-Dokumente, die Ulrike Meinhof gestohlen hatte.
Anwalt Christian Ströbele, Angeklagter Horst Mahler, Anwalt Otto Schily im West-Berliner Kriminalgericht Moabit, um 1972.
Baader bombardierte die Anfänger aus dem Gefängnis heraus mit Anweisungen, wie sie vorzugehen hätten. Anwälte übermittelten seine Botschaften den Illegalen: »die gefangenen rausholen«, schrieb er, »solang ihr so schwach seid, alle kräfte auf diesen job konzentrieren.« Dafür schlug er eine Geiselnahme vor: »bundestagsabgeordnete - wo sie sich außerhalb bonns in ihren kreisen treffen - aber die richtige fraktion innerhalb der spd.« Besser noch: »spitze: biedenkopf, genscher, maihöfer.« Zudem regte er Anschläge auf den Bundesgerichtshof und Justizministerien der Bundesländer an, »die gebäude, in denen sie sitzen - natürlich am tag«. Nicht nur Baader, die gesamte RAF hatte inzwischen eine radikale Rechtschreibreform vollzogen und war zur konsequenten Kleinschreibung übergegangen. Alles Alte, so der revolutionäre Impetus der RAF, muss weg.
Die Aufbaugruppe aber, deren Mitglieder sich kaum kannten und wenig vertrauten, rieb sich in Diskussionen auf und geriet bald ins Visier von Verfassungsschützern. Diese observierten sie über Monate. In aller Ruhe fotografierten in Mülltonnen versteckte Agenten die RAF-Leute. Am 4. Februar 1974 stürmten Terrorfahnder in den frühen Morgenstunden in Hamburg und Frankfurt zwei konspirative Wohnungen und überraschten sieben RAF-Mitglieder im Schlaf; zwei weitere wurden in Amsterdam geschnappt. Es half nichts, dass manche von ihnen ihre Pistolen unter dem Kopfkissen liegen hatten. Der erste Versuch des Wiederaufbaus der RAF war gescheitert.
Die Polizisten stellten in den konspirativen Wohnungen eine umfangreiche Fachbibliothek sicher, mit Titeln wie »Der erste Treffer zählt« oder einem »Handbuch für den Heimfeuerwerker«. Sie beschlagnahmten zehn Pistolen, vier Maschinenpistolen und fünf Tretminen. Wie ein ganzer Stapel unverschlüsselter Kassiber der RAF-Gefangenen an die Illegalen zeigte, war Andreas Baader nun zum Motor der Truppe avanciert. Das von ihm vorherrschende Bild des unpolitischen Bohemiens in Samthosen, des ungebildeten Autoknackers und Waffennarren war stets überzeichnet, jetzt traf es nicht mehr zu.
Als Mann mit einem »hellen und schnellen Verstand« hat ihn die Anwältin Marieluise Becker in Erinnerung. Auch der damalige Anwalt Preuß sagt: »Baader war auch als Gefangener in Stammheim noch von imposanter Spannkraft.« Er habe Charisma gehabt und »exzellent militärische und politische Kräfteverhältnisse analysiert«. Seine Gefährtin Ensslin verherrlichte ihn: »der rivale, absolute feind, staatsfeind: das kollektive bewußtsein, die moral der erniedrigten und beleidigten, des metropolenproletariats - das ist andreas.« 4
Als Ensslin neue Decknamen verteilte und sich dabei zum Teil der Figuren aus Herman Melvilles Roman »Moby Dick« bediente, bekam Baader den Decknamen »ahab«, nach dem besessenen Kapitän des Walfängers, der den weißen Wal durch die Weltmeere jagt und im Kampf gegen ihn zugrunde geht. Ahab, der sagt: »Ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt.« 5
Die RAF-Häftlinge wollten für sich zunächst eine Behandlung wie die anderer Gefangener durchsetzen. Da die Anwälte mit allen Rechtsmitteln gescheitert waren, sahen die Häftlinge den Hungerstreik als einzige Möglichkeit, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ihren dritten und längsten Streik begannen sie im September 1974. »wer seine lage erkannt hat - wie soll der aufzuhalten sein?«, hieß es zum Auftakt.
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