"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
»sensorische Deprivation«, Reizentzug, zu forschen. Er war bald überzeugt, dass man diese durchaus als »Folter« bezeichnen könne. 2
Nach Proll kam Ulrike Meinhof in die isolierte Zelle. Tag und Nacht brannte Neonlicht. Der Fenstergriff war abmontiert. Alles war weiß gestrichen. Die Journalistin war insgesamt 238 Tage dieser verschärften Variante der Einzelhaft unterworfen. Auch der Anstaltpsychologe räumte ein: »Der Eintritt von psychischen und psychosomatischen Störungen auf längere Sicht ist nicht zu vermeiden.«
Als »Folter äußersten, viehischen Grades, dem der menschliche Organismus nicht gewachsen ist«, klassifizierte Meinhof den »akustisch abgeschafften Tag-Nacht-Unterschied«. Sie schrieb über die Folgen ihrer Isolationshaft: »Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müsste eigentlich zerreißen, abplatzen); das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepresst; das Gefühl, das Gehirn schrumpelt einem zusammen, wie Backobst.« Meinhof überkamen »Auschwitzphantasien« im toten Trakt: »Es stimmt einfach, dass da drin eine ›Exekution‹ stattfindet.« 3
Die Linken wühlten solche Berichte über die Haftbedingungen auf. Solange die RAF-Mitglieder Banken überfielen, BMW und Daimler fuhren, Menschen umbrachten und Rechten wie dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß in die Hände spielten, hatte die Szene kaum Sympathien für die RAF. Sie wurde als arrogante, militaristische Truppe abgelehnt. Jetzt im Knast erschienen die RAF-Mitglieder als Opfer des Staates und seiner Justiz, des - trotz aller Kritik an der Terror-Taktik - gemeinsamen Gegners.
Die RAF-Führung verwertete die harten Haftbedingungen für ihre Propaganda. Mit Schlagworten wie »Isolationsfolter« oder »Vernichtungshaft« ließ sich das Zerrbild vom »Neuen Faschismus« in der Bundesrepublik belegen. Gruppen wie die »Rote Hilfe« nahmen sich der »Politischen Gefangenen« an. Mithilfe von Anwälten entstanden in 23 Städten »Komitees gegen die Folter von politischen Gefangenen«, die mehrere Hundert jüngere Linksradikale anzogen. »Folterfreaks« wurden sie in der Szene genannt, sie besuchten die RAF-Gefangenen sowie deren Prozesse und waren »hart drauf«. Alle, die die Nachfolge von Baader und Meinhof antraten und dafür sorgten, dass die RAF 23 Jahre lang schießen und bomben würde, kamen aus diesen Gruppen.
Eine entscheidende Position nahmen die Anwälte der RAF-Gefangenen ein. Da sie ihre Mandanten ausgiebig besuchen konnten, waren sie die wichtigsten Verbindungsleute zur Außenwelt, insbesondere zu den »Illegalen«, den Kadern im Untergrund. Gleichzeitig sorgten die Anwälte mit einem »Info« für die Kommunikation der isolierten Gefangenen untereinander. Die zumeist jungen Anwälte standen unter hohem Druck.
Auf der einen Seite denunzierten konservative Politiker und die Springer-Presse sie pauschal als »Terroristenanwälte«; sie wurden standesrechtlich belangt und mit Strafverfahren überzogen. Auf der anderen Seite versuchten die RAF-Gefangenen, sie - teilweise erfolgreich - für ihre Propaganda einzuspannen oder für das Schmuggeln von Kassibern zu gewinnen. »Gudrun Ensslin«, sagt Ulrich K. Preuß, »machte einem mit ihrem totalen moralischen Anspruch schon dafür ein schlechtes Gewissen, dass man überhaupt noch in Freiheit war.«
Preuß und auch Otto Schily hielten stets Distanz zu ihren Mandanten, doch Kurt Groenewold, Klaus Croissant und andere übernahmen mehr und mehr deren fundamentalistisches Weltbild. Die Gefangenen dankten es ihnen allerdings nicht. Sie blickten auf ihre Verteidiger herab - wie auf alle, die nicht den bewaffneten Kampf aufnahmen. Als »Hosenscheißer«, schmähte Horst Mahler seine einstigen Kollegen; »Rattenanwälte« giftete eine RAF-Frau.
Die Psychologiestudentin Margrit Schiller war im Oktober 1971 verhaftet und wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden. Vier Monate nach ihrer Entlassung im Februar 1973 ging sie wieder in den Untergrund und traf in Rotterdam auf drei weitere Genossen. Die Wiederaufbaugruppe hatte nur ein Ziel: die RAF-Gründer zu befreien, allen voran Baader, Ensslin und Meinhof. Ohne diese, davon waren sie überzeugt, ohne ihre politische und praktische Erfahrung, ließe sich eine schlagkräftige Stadtguerilla nicht aufbauen.
Für eine Befreiungsaktion griffen die Neulinge auf eine alte Allianz zurück, die mit der palästinensischen Fatah, dem bewaffneten Arm der
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