"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
überein, ein letztes Ultimatum zu setzen. Falls auch dieses ignoriert würde, wollten sie die Botschaft, die Geiseln und sich selbst in die Luft sprengen. Um sechs Uhr morgens sollte die Frist ablaufen. Um kurz vor Mitternacht erschütterte eine Detonation das Botschaftsgebäude und eine Feuerwalze raste durch die oberste Etage. »Sprengen! Sprengen!«, brüllte einer der Besetzer. Er glaubte, der schon länger erwartete Angriff der Polizei habe begonnen. In Wahrheit war die Sprengladung ohne fremde Einwirkung explodiert - warum, ist bis heute ungeklärt.
Die meisten Geiseln erlitten Brandverletzungen. Das Kommandomitglied Siegfried Hausner stand in einer Tür und erlitt deshalb besonders schwere, lebensgefährliche Verbrennungen. Ulrich Wessel stürzte vornüber zu Boden. Ihm entglitt seine entsicherte Handgranate, explodierte zwei Meter vor ihm und tötete ihn. Den schwerstverletzten Hausner ließ die Bundesanwaltschaft ausliefern und in die Haftkrankenstation Stuttgart-Stammheim transportieren, obwohl diese für die Behandlung schwerer Verbrennungen nicht ausgestattet war. Dort starb er.
»Denen musste doch mal gezeigt werden, dass es einen Willen gibt, der stärker ist als ihrer«, erklärte Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die RAF war wieder auf dem Nullpunkt angelangt. Sie bestand - von den Gefangenen abgesehen - nur noch aus Stefan Wisniewski. Der sagte später: »Nach Stockholm stand ich quasi vor dem Nichts. Es gab noch ein paar Mark und zwei Pistolen, die aber auch nicht richtig funktionierten.« 8
Jetzt ging Siegfried Haag in den Untergrund. Der Anwalt kam über den Tod seines Mandanten Holger Meins nicht hinweg. Ihn plagten Schuldgefühle. Als er Anfang Mai 1975 spurlos verschwand, hinterließ er eine Erklärung. In einem Staat, »dessen Funktionsträger Holger Meins und Siegfried Hausner hingerichtet haben«, werde er seine »Freiheit nicht bedrohen lassen« und den Anwaltsberuf nicht länger ausüben. »Es ist an der Zeit«, befand Haag, »im Kampf gegen den Imperialismus wichtigere Aufgaben in Angriff zu nehmen.« 9
Zehn Tage nach Haags Verschwinden begann in Stuttgart-Stammheim die Hauptverhandlung gegen die seit Juni 1972 inhaftierte Führung der RAF. Zwar hieß es stets, bei der »Baader-Meinhof-Bande« handele es sich um gewöhnliche Verbrecher, doch für den Prozess war eigens eine düstere »Mehrzweckhalle« errichtet worden: mit acht Meter hohen Betonwänden und ohne Fenster. Sie wurde zum Sinnbild unmenschlicher Architektur im Westdeutschland der 1970er Jahre. Als das Gericht - nach fast dreijähriger Untersuchungshaft - die Hauptverhandlung gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe am 21. Mai 1975 in diesem Bunker eröffnete, mussten Zuschauer und Journalisten ungekannte Sicherheitsmaßnahmen über sich ergehen lassen. Selbst Kugelschreiber und Uhren wurden konfisziert. Der Luftraum über dem Gefängnis und der Gerichtshalle war gesperrt worden.
Der Bundestag hatte eilig ein Bündel von Sondergesetzen verabschiedet. Auf dieser Grundlage schloss das Gericht vier Anwälte, darunter Christian Ströbele, den heutigen Bundestagsabgeordneten der Grünen, wegen angeblichen Missbrauchs der Verteidigerrechte von dem Verfahren aus. Ströbele warf die Bundesanwaltschaft »Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« vor, da er das fotokopierte »Info« mit Texten von RAF-Gefangenen an diese verteilt hatte. Zudem konnte auch ohne die Angeklagten verhandelt werden. Obwohl die Anklageschrift 354 Seiten umfasste, war es der Bundesanwaltschaft nicht gelungen, den Angeklagten ihre jeweiligen Tatbeiträge zuzuordnen. Sie hatten eisern geschwiegen. Ausgesagt hatten nur ein paar Randfiguren und Hilfskräfte. Die RAF-Führung versuchte zusammen mit ihren Anwälten, den Prozess in ein politisches Tribunal zu verwandeln und den »US-Imperialismus« anzuklagen. Sie beantragten beispielsweise, den Ex-US-Präsidenten Richard Nixon als Zeugen vorzuladen, weil er die völkerrechtswidrige Bombardierung Kambodschas angeordnet hatte.
Da der Vorsitzende Richter Theodor Prinzing die politischen Motive der Angeklagten keinesfalls zur Sprache kommen lassen wollte, verkam der Prozess schnell zu einem Kleinkrieg zwischen dem überforderten Vorsitzenden und den Verteidigern, allen voran Otto Schily. Der griff mit der ihm eigenen schneidenden Schärfe die Bundesanwaltschaft und das Gericht an.
Um die Angeklagten in der Nähe des Karlsruher Dienstsitzes der Bundesanwälte zu haben, war
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