Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: "Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Sontheimer
Vom Netzwerk:
gewesen.

    Nicht nur für Haag und Wisniewski, für alle RAF-Mitglieder der zweiten Generation und die meisten der dritten Generation war der Hungertod von Meins das Schlüsselerlebnis. »Das war die Stunde der Wahrheit«, sagt Karl-Heinz Dellwo, der wenige Monate später in den Untergrund ging. »Ich empfand nur noch ohnmächtige Wut«, erinnerte sich seine damalige Freundin Susanne Albrecht, »nur noch Hass«. 7 Sie dachte, es könne nicht zugelassen werden, »dass hier noch mehr Gefangene sterben«.

    Nie zuvor und nie mehr danach konnte die RAF so viele Menschen mobilisieren. Nach dem Tod von Meins marschierten trotz eines Demonstrationsverbots rund 5000 Linksradikale durch die West-Berliner City; es kam zu einer heftigen Straßenschlacht. Als Meins in Hamburg beigesetzt wurde, reiste auch Rudi Dutschke an, der einstige Kopf der Studentenbewegung. In seinem Tagebuch klagte er über die »RAF-Scheiße«, doch am offenen Grab von Meins erhob er den rechten Arm, ballte die Faust und sagte: »Holger, der Kampf geht weiter!«

    In Heidelberg gingen nach dem Tod von Meins vier ehemalige Mitglieder des Sozialistischen Patientenkollektivs in den Untergrund. Einer von ihnen war der Student Ulrich Wessel, Sohn eines Hamburger Tropenholzmagnaten und Multimillionärs; ein anderer Siegfried Hausner, der bereits für die erste Generation der RAF Hilfsdienste geleistet hatte. Es gab nun eine neue Gruppe, die in einer konspirativen Wohnung in Frankfurt lebte. Sie hatte drei Pistolen, aber nicht einmal ein Auto.

    Im Hungerstreik gestorbener Holger Meins, November 1974.

    Gleichzeitig machte Baader Druck: Es müsse endlich eine Befreiungsaktion laufen. Die Illegalen verfügten nicht über die Infrastruktur für eine Entführung und fassten daher den Plan, eine bundesdeutsche Botschaft zu besetzen, dabei Geiseln zu nehmen und so die Genossen freizupressen. Die Botschaften in Wien, Bern und Den Haag erschienen ungeeignet, die Wahl fiel auf Stockholm. Die Gruppe wusste um das hohe Risiko einer solchen Aktion ohne Rückzugsmöglichkeit, aber sie war zu allem bereit. »Wir müssen sie alle rausholen, wir müssen die Machtfrage stellen«, beschreibt das Kommandomitglied Karl-Heinz Dellwo ihre Einstellung. »Wir müssen die Staatsmacht brechen.«

    Am Vormittag des 24. April 1975 betraten die sechs Mitglieder des »kommandos holger meins« in Zweiergruppen die Botschaft der Bundesrepublik in Stockholm, nahmen 14 Diplomaten und Angestellte als Geiseln und verbarrikadierten sich in der obersten Etage des viergeschossigen Kanzleigebäudes. Nachdem schwedische Polizisten in die unteren Stockwerke eingedrungen waren, forderten die Geiselnehmer deren Rückzug. Andernfalls würden sie den Militärattaché Andreas Baron von Mirbach erschießen. Die Polizei nahm die Drohung nicht ernst und ließ drei Ultimaten verstreichen. Die Terroristen schossen fünf Mal auf Mirbach und warfen den tödlich Verletzten die Treppe hinunter.

    Als Nächstes versah das Kommando den mitgebrachten Sprengstoff mit Zündern und verlangte, dass 26 »politische Gefangene«, zum allergrößten Teil RAF-Mitglieder, freigelassen werden. Diese seien bis 21 Uhr auf dem Frankfurter Flughafen zu versammeln und auszufliegen; jedem seien 20 000 Dollar mitzugeben. Bundeskanzler Helmut Schmidt lehnte das ab. Zwei Monate zuvor hatte die anarchistische Bewegung 2. Juni in West-Berlin den CDU-Landesvorsitzenden Peter Lorenz entführt und die Freilassung von sechs inhaftierten Genossen gefordert. Während Schmidt mit hohem Fieber daniederlag, verständigten sich der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz, der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl und die anderen Mitglieder des Bonner Krisenstabes auf einen Austausch. Schmidt stimmte zu, bereute es nun aber. Für ihn war die Besetzung der Stockholmer Botschaft die Strafe für solche Nachgiebigkeit.

    Die Mitglieder des Terror-Kommandos hatten die Devise: »Entweder wir kommen durch oder wir sterben.« Den Vorschlag des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme - freier Abzug bei Freilassung der Geiseln - wiesen sie mehrmals zurück. Am Abend teilte der schwedische Justizminister den Geiselnehmern mit, dass die Bonner Regierung ihre Forderungen kategorisch ablehne. Die Botschaftsbesetzer erschossen daraufhin den Wirtschaftsreferenten Heinz Hillegaart und drohten, jede Stunde eine weitere Geisel zu töten. Doch ihnen war klar, dass sie gescheitert waren. Sie fühlten sich nicht mehr in der Lage, eine weitere Geisel zu erschießen. Sie kamen

Weitere Kostenlose Bücher