"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
bewaffneten Kampf aufgeben und in der DDR aufgenommen werden könnten.
Auch in den Niederlanden stieg der Fahndungsdruck. Drei Tage nachdem Schleyer nach Den Haag verschleppt worden war, wurden dort die Inhaber einer Autovermietung misstrauisch, als eine junge Frau einen Wagen zurückgab. Sie verständigten die Polizei, und als ein Polizeiwagen in den Hof einbog, rannte die Frau los; mit ihr ein Mann, der sie offenbar absicherte. Als ein Polizist das Paar erreichte, schoss ihn der Mann an. Kurz zuvor hatte ganz in der Nähe ein RAF-Mann in einer Bar eine Tasche deponiert. Er verließ das Lokal mit der Bemerkung, er komme gleich wieder, aber tauchte nicht mehr auf. In der Tasche fanden sich ein Uher-Tonbandgerät und ein Mikrofon. Die RAF-Kader vermuteten zu Recht, dass die Ermittler nun Schleyer in den Niederlanden wähnten.
Fluchtartig räumten sie die konspirative Wohnung in Den Haag. Schleyer transportierten sie nach Brüssel, in eine Wohnung in einem Hochhaus, die nie von der Polizei entdeckt wurde. Die RAF hatte bereits eine weitere Konsequenz aus dem ständig steigenden Fahndungsdruck gezogen. Alle Illegalen, die nicht unmittelbar für die Aktion »Spindy« gebraucht wurden, flogen ab Mitte September auf Umwegen nach Bagdad, darunter das Führungspaar Brigitte Mohnhaupt und Peter-Jürgen Boock, aber auch Randfiguren wie Susanne Albrecht. Acht RAF-Mitglieder trafen in einem Haus in der irakischen Hauptstadt ein. 13
Eine Bestätigung, dass die meisten RAF-Kader sich in die Niederlande abgesetzt hatten, erhielten die Fahnder am 22. September 1977. Knut Folkerts wollte in Utrecht einen Mietwagen zurückgeben, doch im Büro warteten zwei Polizisten auf ihn. Er zog sofort seine Pistole und schoss die beiden Polizisten nieder; einer starb; Kollegen des ermordeten Arie Kranenburg nahmen Folkerts fest. BKA-Beamte verhörten ihn in einer Kaserne der niederländischen Militärpolizei, sagt Folkerts heute, an die 48 Stunden lang, in einer fensterlosen Zelle, er nur in der Unterhose, mit Händen und Füßen an einen Stuhl gefesselt. Die Ermittler wollten unbedingt aus ihm herauskriegen, wo Schleyer versteckt war. »Wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest, kommst du hier nicht mehr lebend raus«, hätten BKA-Männer zu ihm gesagt, »wir hängen dich auf. Es ist Ausnahmezustand. Wir haben freie Hand.« Folkerts wurde mit Musik terrorisiert. Seine Bewacher spielten ihm rund um die Uhr einen Song der amerikanischen Rockband »The Eagles« vor: »Welcome to the Hotel California - such a lovely place.« Als er standhaft die Aussage verweigerte, boten die BKA-Männer ihm eine Million Mark und eine neue Identität. Folkerts aber schwieg.
Untypisch schweigsam waren auch die westdeutschen Journalisten. Der Sprecher der Bundesregierung Klaus Bölling hatte die Chefredakteure gebeten, Botschaften der Entführer »erst nach Konsultationen mit der Bundesregierung« zu veröffentlichen, und diese unterwarfen sich widerspruchslos der Staatsräson. Nur die von Jean-Paul Sartre mitbegründete »Libération« in Paris publizierte Briefe und Fotos von Schleyer. Die freiwillige Nachrichtensperre der westdeutschen Journalisten motivierte allerdings bald Hunderte von Linksradikalen in der ganzen Republik dazu, »die tageszeitung« (»taz«) zu gründen.
Schleyer und seine Entführer duzen sich bald. Sie vereint der Wunsch, dass die Bundesregierung die Gefangenen austauscht. Schon mehr als einen Monat in Gefangenschaft, schreibt Schleyer, er habe an eine Entscheidung der Bundesregierung gedacht, »nicht an ein jetzt über einen Monat dauerndes Dahinvegetieren in ständiger Ungewissheit.« Der »Zustand eines nicht mehr verständlichen Hinhaltens«, so der Gefangene, »ist auch von mir nicht mehr lange zu verkraften«. 14
Entführter Hanns Martin Schleyer in Brüssel, 5. Oktober 1977.
Am Ende mit ihren Nerven und Kräften sind mittlerweile auch die Inhaftierten der RAF. Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel hatte schon am Tag nach der Entführung seine Kollegen in den Ländern aufgefordert, ohne gesetzliche Grundlage eine umfassende Kontaktsperre gegen alle Häftlinge zu verhängen, die wegen Terrorismus verurteilt worden waren. Der Bundestag legalisierte die Praxis 23 Tage später mit einem Gesetz.
Zwei Wochen nach dem ersten Gespräch in Stammheim bittet Jan-Carl Raspe um einen erneuten Besuch des »Familienbullen« Alfred Klaus. Er nennt Klaus als weitere mögliche Aufnahmeländer - falls die Regierungen der von Baader genannten
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