"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
kam.
»Man kann sich nicht auf den Computer verlassen«, sprach Schleyer eine Woche nach der Entführung auf ein an Helmut Kohl gerichtetes Tonband. »Man muss den Computer durch menschliche Hirne speisen, wenn man von ihm richtige Erkenntnisse erwartet.« 10 Erst rund acht Wochen später, als die Polizei Erftstadt am 8. November erneut auf die Wohnung aufmerksam machte, rückten Experten des Grenzschutzes und eines Mobilen Einsatzkommandos zur Observation an. Als eine RAF-Frau die Wohnung weitere drei Monate später gekündigt hatte, stürmte ein GSG-9-Kommando das einstige erste Versteck für Schleyer. Herold hatte unmittelbar nach der Entführung prophezeit, dass die Täter »dem über sie hereinbrechenden engmaschigen Schleppnetz zum Opfer fallen« würden. 11 Für ihn und seine Ermittler war das mehrfache Ignorieren der Hinweise auf die Wohnung in Erftstadt keine Fahndungspanne, sondern ein Desaster.
Die Taktik des Bundeskriminalamtes und der Bundesregierung nach der Entführung war simpel. Sie hielten die RAF hin. Ein ums andere Mal ließen sie Ultimaten verstreichen; immer wieder forderten sie neue Lebenszeichen von Schleyer. Die RAF-Kader hatten das Problem, dass sie nur eine einzige Trumpfkarte besaßen, nämlich Schleyer. Sie konnten mit seiner Erschießung drohen, aber bei der Verwirklichung dieser Drohung hätten sie mit leeren Händen dagestanden. Die Entführer versuchten, Druck auf die Bundesregierung auszuüben, indem sie Schleyer dazu brachten, Briefe zu schreiben; an seine Familie, an Freunde und an Politiker.
Eine Woche nach der Entführung versandte die RAF eine Erklärung, in der es hieß: »wir erwarten bis 24.00 die entscheidung der bundesregierung, ob sie den austausch will oder nicht.« 12 Doch die RAF eröffnete der Bundesregierung auch die Möglichkeit, weitere Zeit zu gewinnen. »die möglichen zielländer können der bundesregierung nur von den gefangenen selbst genannt werden«, hieß es in dem Ultimatum. Das ging nicht so schnell und einfach. Herold schickte zunächst den »Familienbullen« nach Stammheim, wie Ulrike Meinhof den BKA-Sonderermittler Alfred Klaus genannt hatte, weil er die Angehörigen von Terroristen aufsuchte. Der brachte Fragebögen für die Gefangenen mit, deren Freilassung gefordert wurde. Darauf sollten sie erklären, ob sie ausgetauscht werden wollten. Zudem sollten sie die gewünschten Zielländer eintragen. Im Hochsicherheitstrakt im siebten Stock sprach Klaus im Beisein eines Bundesanwalts und des Stammheimer Anstaltsleiters dann mit Baader. Der schlug einen ungewohnt konzilianten Ton an und erklärte: »Die Bundesregierung kann im Falle eines Austauschs damit rechnen, dass die Freigelassenen nicht in die Bundesrepublik zurückkehren würden und eine Wiederauffüllung des Potentials nicht beabsichtigt ist.« Er fügte noch hinzu: »Uns auszufliegen, würde eine Entspannung für längere Zeit bedeuten.« Als mögliche Ziele gab Baader Vietnam, Algerien, Libyen, die Volksrepublik Jemen und den Irak an.
In Wahrheit - und das wusste Klaus - war Helmut Schmidt fest entschlossen, unter keinen Umständen auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Drei Tage nach der Entführung hatte der Bundeskanzler im Krisenstab auf der Suche nach Alternativen darum gebeten, ruhig einmal »exotische Vorschläge« zu entwickeln. Horst Herold präsentierte daraufhin die Idee, die Gefangenen zum Schein nach Jemen, aber in Wirklichkeit nach Israel zu fliegen und - nachdem sie den Illegalen ihre Ankunft gemeldet hatten - wieder festzunehmen. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann schlug vor, die Stammheimer Gefangenen einen nach dem anderen erschießen zu lassen - bis die RAF Schleyer freilasse. Der BKA-Beamte Klaus dagegen hatte die friedliche Idee, die inhaftierte RAF-Spitze in die Verhandlungen einzubeziehen und sie mittels kleiner Zugeständnisse dazu zu bringen, bei ihren Genossen draußen für die Freilassung Schleyers zu sorgen. Doch Herold lehnte diesen Plan ohne Diskussion ab.
Angesichts der Verzögerungstaktik der Bundesregierung beschlossen die Entführer, Schleyer zu verlegen. Am 13. September mietete Angelika Speitel eine Wohnung in der Stevinstraat im niederländischen Regierungssitz Den Haag. Drei Tage darauf steckten die Entführer Schleyer in einen Weidenkorb und transportierten ihn bei Kerkrade über die grüne Grenze in die Niederlande. Schleyer hoffte derweil auf einen Kompromiss zwischen RAF und Regierung, zum Beispiel dass die Stammheimer Gefangenen den
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