"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Stammheim saß sie in strenger Einzelhaft. Im Frankfurter Frauengefängnis Preungesheim war sie dann mit einer jungen Fixerin zusammen, doch die spritzte sich eine Überdosis. Nach ihrer Verlegung nach Köln-Ossendorf war sie im Sommer 1981 mit ihren Kräften am Ende. Als sie sich beim Verfassungsschutz als Informantin anbot, konnten die notorisch erfolglosen Beamten ihr Glück kaum fassen. Jahrelang hatte der von Ulrike Meinhof »Familienbulle« genannte BKA-Beamte Alfred Klaus versucht, mithilfe der Eltern und von Besuchen bei den RAF-Gefangenen, diese zu Aussagen zu verleiten. Verfassungsschützer hatten Geld geboten, neue Identitäten und Starthilfe für ein neues Leben in Übersee. Vergeblich. Nur Randfiguren und Hilfskräfte der RAF hatten ausgepackt.
Mit Verena Becker wollte zum ersten Mal jemand reden, der zur Führung der Gruppe gezählt hatte. Die Verfassungsschützer erfanden die Legende, dass Becker an Tuberkulose erkrankt sei und zeitweise in ein anderes Gefängnis verlegt würde, dann sagte sie zwei Wochen lang in einer konspirativen Wohnung in Köln aus. »Sie wusste sehr viel«, sagt ein Ex-RAF-Mitglied. »Sie kannte Depots und sie hatte an wichtigen Diskussionen der Gruppe teilgenommen.« Vor allem brach Becker auch ein Tabu der RAF. Sie sprach darüber, wer an welchen Aktionen beteiligt war. Die Verfassungsschützer fassten Beckers Aussagen im März 1982 in zwei Berichten zusammen und schickten diese an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Becker bekam ein Honorar von knapp 5000 Mark.
Nicht lange nach dem Überlaufen Beckers wurde die RAF-Frau Sieglinde Hofmann ins Gefängnis Köln-Ossendorf verlegt. Als die ehemalige Medizinstudentin im Mai 1980 in Paris verhaftet worden war, hatte BKA-Chef Horst Herold sie als »Stabschefin der Mohnhaupt« charakterisiert. Hofmann und Becker hatten in Köln-Ossendorf gemeinsamen Umschluss. Die Verfassungsschützer hofften, Becker würde Hofmann abschöpfen, ihr Details über die RAF-Aktionen des Jahres 1977 entlocken und weitergeben. Doch es kam anders.
Vom schlechten Gewissen gequält, gestand Becker Hofmann ihren Verrat. Hofmann wiederum warnte die übrigen RAF-Gefangenen. »Die Becker hat sich zunächst damit rauszureden versucht«, erinnert sich ein ehemaliges RAF-Mitglied, »dass Boock, der nach seinem Ausstieg im Januar 1981 in Hamburg verhaftet worden war, ohnehin schon alles ausgeplaudert hätte - aber das hat er erst zehn Jahre später getan.« Dann habe Becker angeboten, sich umzubringen. »Aber das fanden wird total absurd und haben es sofort abgelehnt. Wenn sie dies tun würde, haben wir ihr angedroht, machen wir ihren Verrat öffentlich.« Becker wurde aus der RAF verstoßen, die Kommunikation mit ihr gekappt.
Sogar Beckers alte Freundin Inge Viett erfuhr in der DDR von derem Überlaufen. Deprimiert berichtete sie einem ihrer Stasi-Betreuer davon, doch der war bereits im Bilde. Durch Spione im Bundesamtes für Verfassungsschutz wussten Mielkes Männer längst, »dass die Becker umgedreht worden war«, wie es ein ehemaliger Stasi-Major ausdrückt.
Am 11. November 1982 hatten sich zwei mit einem Klappspaten ausgerüstete Frauen in einem Wald bei Heusenstamm südlich von Offenbach dem wichtigsten Depot der RAF genähert. GSG-9 Männer hatten keine Mühe, Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz festzunehmen. Das BKA verbreitete die Legende, dass Pilzsammler das einen halben Meter unter der Erdoberfläche verborgene Zentraldepot entdeckt hätten. Glaubhafter sind Informationen eines ranghohen ehemaligen Polizisten. Er sagt, Verena Becker habe den Verfassungsschützern den entscheidenden Tipp gegeben.
Nur fünf Tage später lagen in der Nähe eines anderen Depots mit dem Decknamen »Daphne« im Sachsenwald unweit von Hamburg mehrere Dutzend Polizisten auf der Lauer. Der Mann im Trainingsanzug, der ihnen in die Arme lief und sich widerstandslos festnehmen ließ, war Christian Klar. Nun waren alle Vertreter der zweiten Generation außer Gefecht gesetzt. Die RAF war - wie schon im Sommer 1972 und Frühjahr 1975 - wieder auf dem Nullpunkt angelangt. Sie existierte nur noch in Gestalt von Gefangenen. Die Steckbriefe mit jenen Terroristen darauf, die in der DDR hatten abtauchen können, waren Makulatur. Insgesamt 3459 Hinweise »aus fast allen Kontinenten« registrierte das Bundeskriminalamt zu diesen Gesuchten, aber sie waren fast alle falsch. Fast.
Am 13. Juni 1985 gab auf der Polizeistation im schwäbischen Möglingen ein junger DDR-Übersiedler
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