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"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: "Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Sontheimer
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Schnaps und Bier den Tag ihrer Einbürgerung zu feiern. Niemand klagte über den Realen Sozialismus. »Alle Personen«, konstatierte ein Stasi-Offizier, »haben sich fest in das berufliche und öffentliche Leben eingegliedert.« Sie lebten mit einer falschen Identität im für sie richtigen System. Das Leben in der DDR entsprach »in vielem dem«, so Lotze später, »wie ich es mir vorgestellt hatte, bevor ich zur RAF ging«.

    Nach ihrer Verhaftung schrieb Inge Viett alias Eva-Maria Schnell einen Brief an ihr »Liebes Kollektiv«, in dem sie zu einer Hymne auf ihre neue Heimat ansetzte: »Ein Land, das sich die Werte, für die ich lebte, auf seine Fahnen, seine Verfassung und Gesetze geschrieben hat: Antifaschismus, Solidarität, Völkerfreundschaft und Kollektivität. Für diese gesellschaftlichen Ziele hab ich all die Jahre in der DDR mit großer Kraft gelebt und gearbeitet. Es sind die wichtigsten Jahre in meinem Leben.« 7

Kapitel 9

    Die dritte Generation

    Die Geschichte der RAF ist auch die Geschichte von Fehlern, teilweise grotesken Fehlern. Pistolen dienten den Illegalen als Mitgliedsausweis, aber sie stellten auch ein beständiges Risiko dar. Am 2. Juli 1984 hatten sich sechs RAF-Kader in einer konspirativen Wohnung in Frankfurt am Main versammelt. Wem es passierte und warum, ist unklar, auf jeden Fall ging jemandem eine Pistole los. Das Projektil durchschlug den Fußboden und landete in der darunter liegenden Wohnung eines Elektromeisters. Der saß gerade mit einem Bier vor dem Fernseher und sah die »Tagesschau«, als er ein Geräusch hörte, als sei in der Wohnung über ihm ein Stuhl umgefallen.

    Erst als eine ihm unbekannte Frau klingelte und erzählte, ihr sei in der Wohnung über ihm Wasser ausgelaufen, ob etwas durchsickere, sah der Mann sich um. Jetzt erst entdeckte er ein Loch in der Decke, sah das Projektil im Fußboden stecken und rief die Polizei. Sieben Streifenbeamte marschierten in die Wohnung und fanden in einer Kammer sechs RAF-Mitglieder, die sich widerstandslos festnehmen ließen: Helmut Pohl, Christa Eckes, Stefan Frey, Ingrid Jakobsmeier, Barbara Ernst und Ernst-Volker Staub.

    In dem Frankfurter Unterschlupf konnten die Fahnder zudem 8400 Blatt Dokumente beschlagnahmen: vor allem Strategiepapiere und Ausspähungsunterlagen. In Letzteren fanden sich Hinweise auf spätere RAF-Opfer, zum Beispiel auf die Manager Ernst Zimmermann und Karl-Heinz Beckurts. Bei den Verhafteten handelte es sich um eine Aufbaugruppe der RAF, die den Kampf auch nach der Verhaftung der letzten Kader der zweiten Generation weiterführen wollte. Als die Stasi-Offiziere, die die RAF-Aussteiger in der DDR betreuten, von den Umständen der Verhaftung erfuhren, sagten sie sich: »Mit solchen Amateuren wollen wir nichts mehr zu tun haben.« 1

    Aber warum war die so jämmerlich gescheiterte Gruppe überhaupt in den Untergrund gegangen? Warum hatten nicht schon Mohnhaupt, Klar und weitere Vertreter der zweiten Generation nach der katastrophalen Niederlage im Deutschen Herbst 1977 die Waffen niedergelegt? Warum fanden sich immer wieder Nachfolger, die den hoffnungslosen Krieg gegen Kapitalismus und Staat weiterführten? Den Einsteigern musste doch klar sein, dass am Ende des Weges in den Untergrund höchstwahrscheinlich der Tod oder eine lebenslange Gefängnisstrafe auf sie wartete.

    Die RAF-Mitglieder waren, trotz ihrer Theorie vom internationalen Befreiungskampf, sehr deutsch. So wie ihre Väter auch in hoffnungsloser Lage im Krieg nicht aufgegeben hatten, kam Kapitulation für sie nicht infrage. Und man kämpfte schon deshalb weiter, um die Niederlage nicht einzugestehen. Man wähnte sich auf der richtigen Seite der Geschichte und kämpfte für den Endsieg. Birgit Hogefeld sollte nach ihrer Verhaftung selbstkritisch feststellen: »Das Sture, das Dogmatische, die Tatsache, dass wir bis in die neunziger Jahre unseren eingeengten Horizont verteidigt haben. Das war sehr deutsch.« 2

    Diese Mentalität verband die RAF-Terroristen mit den Vertretern des angegriffenen Staates. Auch die allermeisten Politiker, Bundesanwälte und Polizisten kannten keine flexible Taktik und keinen Kompromiss. Vor allem die harten Haftbedingungen der RAF-Gefangenen hatten dafür gesorgt, dass der Terrorgruppe wie einer Hydra stets neue Köpfe nachgewachsen waren. Doch auch nach dem Deutschen Herbst wurden die meisten RAF-Gefangenen weiterhin über Jahre in strenger Einzelhaft isoliert. In Hochsicherheitstrakten kämpften sie verzweifelt um

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