Natürliche Selektion (German Edition)
rechte Hand von der Nase ans linke Seitenfenster. »Da drüben sollten Sie hin«, beschwor sie ihre Passagiere. »Am Fuß des Gebirges liegt El Yunque, der tropische Regenwald. Da gibt’s Bäume und Orchideen, die gibt’s gar nicht.«
»Ich werd’s mir merken«, murmelte Leo gedankenverloren. Sie konzentrierte sich auf die letzten paar Meter bis zum Parkplatz vor dem weißen Empfangsgebäude von RDC. Drei Flaggen wehten vor dem Eingang: das Sternenbanner, die Fahne Puerto Ricos und das weiße Schweizerkreuz auf blutrotem Tuch. Kokospalmen und andere exotische Bäume säumten die Plätze und Wege, aber auch sie änderten nichts an der Hässlichkeit der industriellen Zweckbauten.
Professor Damien Fabre musste hervorragende Verbindungen zur Pharmaindustrie haben, denn nicht nur Kendall, der fachliche Leiter, sondern auch der Direktor und die Marketing-Chefin empfingen sie wie wichtige Kunden. Dank Ruth Seilers Briefing am Abend zuvor mussten sie sich nicht lange mit Smalltalk aufhalten. Die Pharmakologin aus Basel führte sie ohne Umwege durch die Fabrikationsanlagen und Labors und sorgte dafür, dass sie sich mit den Spezialisten über die gewünschten Themen unterhalten konnten. Die Art, wie Audrey sich dabei einbrachte, verblüffte Leo und flößte ihr eine gehörige Portion Respekt für ihre Tochter ein. Obwohl medizinischer Laie, verstand sie durch geschickte Fragen und Bemerkungen, die Fachleute zu täuschen und sie zu Aussagen zu verleiten, die sie sonst kaum gemacht hätten. Stellenweise hatte Leo den Eindruck, einem Verhör beizuwohnen. Sie hatten vereinbart, dass Audrey vor allem Augen und Ohren offen halten sollte, um festzustellen, was man ihnen verschwieg, worüber man absichtlich oder unabsichtlich nicht sprach. Auch diese Funktion erfüllte sie ausgezeichnet, wie Leo feststellte. Audrey entfernte sich hin und wieder scheinbar zufällig von ihr und ihren Gesprächspartnern, nur um ein paar Worte mit andern Angestellten zu wechseln, eine Karte an der Wand oder ein Diagramm auf einem Bildschirm zu studieren.
»Sagen Sie, sind das nicht Aufnahmen aus einem Flugsimulator? «, fragte Audrey, als sie an einer Bildwand vorbeikamen.
»Ganz richtig, Dr. Barrès. Die Bilder symbolisieren eine der zahlreichen Erfolgsgeschichten von RDC. Es handelt sich um Donepezil ...«
»Der Wirkstoff in Aricept«, warf Leo schnell ein, um Audrey zu signalisieren, worum es ging. »Erhöht die Konzentration des Neurotransmitters Acetylcholin, verstärkt die elektrischen Signale zwischen Hirnzellen.«
Frau Seiler nickte. »Bei uns heißt das Medikament zwar Ceptin«, lächelte sie, »aber es wirkt gleich wie Aricept. Das Bild hier zeigt den Flugsimulator, der bei einem Experiment mit Ceptin benutzt wurde. 2002 haben achtzehn erfahrene Piloten mit Durchschnittsalter zweiundfünfzig in dieser Maschine während dreißig Tagen kritische Flugsituationen trainiert. Die Hälfte der Probanden bekam eine geringe Dosis Donepezil, die andere Hälfte ein Placebo. Am Schluss hat man die Leute getestet. Die Piloten, die Donepezil bekommen hatten, waren ihren Kollegen deutlich überlegen. Vor allem Notsituationen meisterten sie messbar besser.«
»Da kommt doch gleich wieder Hoffnung auf fürs Alter«, spottete Audrey.
Die Pharmakologin schmunzelte. »Sie lachen, aber das ist exakt der Punkt«, betonte sie. »Ein zunehmender Teil unserer Produktion geht in diesen Markt: Unterstützung und Verbesserung der Hirntätigkeit. Wie Sie wissen, nimmt die Leistungsfähigkeit des Gehirns mit fortschreitendem Alter deutlich ab, und der Anteil älterer Menschen steigt laufend. In Europa ist schon bald jeder Dritte über fünfzig Jahre alt. Das ist natürlich für Firmen wie RDC ein Milliardengeschäft.«
»Das verstehe ich«, sagte Leo nachdenklich. »Aber besteht nicht gerade deshalb die Gefahr, dass Präparate wie Donepezil oder Methylphenidat im Ritalin aggressiv als Modedroge vermarktet werden, nicht nur zu Heilungszwecken?«
Ruth Seiler nickte zustimmend. »Die Gefahr besteht«, gab sie zu, »aber schließlich handelt es sich um rezeptpflichtige Drogen, wie Ihnen sicher bekannt ist ...«
»Sicher«, unterbrach Leo. »Es ist aber allgemein bekannt, dass diese Barriere nicht sonderlich hoch ist. Ich muss leider zugeben, dass nicht alle meine Kolleginnen und Kollegen gleich verantwortungsvoll handeln. Ein Patient kann sich jederzeit mit seinem Rezept Medikamente beschaffen und sie einfach weiterverkaufen, mit Gewinn natürlich. Mir sind Fälle
Weitere Kostenlose Bücher