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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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was der Computer auf seinem Bildschirm darstellte, waren Echtzeitbilder vom Gehirn eines kleinen Primaten. Fast noch ein Säugling, doch zweifellos der wichtigste Schimpanse auf diesem Planeten.
    »Nun, wie geht’s unserer Rosy?«, fragte sie ungeduldig.
    Der Arzt beobachtete schweigend weiter. Erst nach bangen Minuten richtete er sich auf, streckte die verkrampften Glieder und sagte lapidar: »Ich sehe nichts.«
    Jodies Herz hüpfte. Sie stieß einen Jauchzer aus, wie sie ihn vom Schweizer Kollegen gelernt hatte und fiel ihm um den Hals. »Nichts – ich dreh durch!«, rief sie verzückt. »Keine erweiterten Ventrikel, keine Veränderung im Hippocampus. Wir haben es geschafft, endlich!«
    »Sieht ganz danach aus, meine Süße. Die kleine Rosy ist putzmunter und kerngesund. Die pathogenen Symptome für Schizophrenie-ähnliche Verhaltensstörung sind bei der Kleinen nicht aufgetreten. Das gute, alte Risperidon in der Pille hat seine Wirkung getan.«
    »Keine Nebenwirkungen mehr?«
    Der Arzt schüttelte den Kopf. »Keine, außer den vorübergehenden Symptomen nach der Einnahme. Jodie, wir sind am Ziel. Alpha-III ist geboren.«
    Kein spektakulärer Name für die feuerrote Pille, mit der sie die kleine Tochter der tapferen Upya behandelt hatten. Die Wirkung aber stellte alles in den Schatten, womit Pharmakologen sich bisher beschäftigten. Rosy war nicht nur kerngesund, ihre geistigen Fähigkeiten übertrafen bereits jetzt diejenigen ihrer Mutter. Jodie schätzte ihre Intelligenz beim Erkennen und Erinnern von Mustern höher ein als die eines zweijährigen Kindes. Über sechs Jahre arbeiteten sie nun an der Weiterentwicklung des Medikaments. Oft waren sie nahe daran, aufzugeben. Der zermürbende Kampf gegen die hartnäckigen Nebenwirkungen allein beschäftigte das Team die ganzen letzten zwei Jahre Tag und Nacht. Es bestand ein kniffliges Gleichgewicht zwischen verbesserter Kommunikation der NMDA-Rezeptoren, die für die dramatisch erhöhte Hirnleistung verantwortlich war, und erhöhter Gefahr schizophrener Reaktionen. Sie schafften den Durchbruch schließlich nur, nachdem sie den Wirkungsbereich der Droge in mühseliger Kleinarbeit schrittweise verbessert hatten. Der lebende Beweis, dass ihnen das Unmögliche gelungen war, lag vor ihnen im Computer-Tomografen. Auch Rosys Mutter Upya hatte die virale Infektion, die sie während der Schwangerschaft auslösen mussten, gut überstanden. Einige Monate nach der Geburt zeigten sich die erwarteten Veränderungen in Rosys Gehirn, die, genau wie beim Menschen, Schizophrenie-artige Symptome ankündigten. Die kleine Rosy wäre geistig behindert geblieben, hätte sie nicht die rote Pille geschluckt.
    Jodie nahm das Glas mit den restlichen Proben der neuen Wunderdroge in die Hand und betrachtete es mit Ehrfurcht. »Alpha-III, willkommen auf dem Planeten Erde«, murmelte sie.
    Der Arzt weckte sie aus ihrem Tagtraum: »Du solltest den Colonel anrufen. Ich versorge die Kleine, dann wird gefeiert.«
Humacao, Puerto Rico
    Die Fahrt im klapprigen Ford der Ruth Seiler entpuppte sich als wahre Nervenprobe. Die meiste Zeit hielt sie das Steuer nur mit ihrer Linken. Mit der andern Hand fuchtelte sie vor Leos Augen herum, erklärte die Gegend und stieß die schwere Brille auf der Nase zurück. Audrey und sie hatten schon bei der Begrüßung im Hotel bemerkt, wie aufgekratzt die Pharmakologin war. Irgendetwas außerordentlich Erfreuliches musste über Nacht geschehen sein.
    Schau auf die Strasse, Mädchen! , beschwor Leo die Fahrerin im Stillen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass auch Audrey alles andere als entspannt auf dem Hintersitz saß. Ihre Hand klammerte sich richtiggehend an den Griff über der Fensterscheibe. Ihr Glück war die gut ausgebaute, breite Strasse. Für einmal dankte sie den amerikanischen Kolonialisten für diese technische Errungenschaft. Die Decke aus Schäfchenwolken am Himmel lichtete sich, als sie die Passstraße vom Paseo Alta ins Tal hinunter fuhren. Eine Weile führte die Pr-30 nach Südosten, direkt gegen die Sonne. Sie brannte durch die Frontscheibe und blendete Leo so stark, dass sie die Augen schließen musste. Sie wagte nicht daran zu denken, wohin die Fahrerin in diesem Augenblick schaute.
    Die ersten Häuser Humacaos tauchten auf, und sie dankte der Vorsehung, dass sie es endlich geschafft hatten.
    »Nicht gerade der Ort, wo man Ferien macht«, lachte Frau Seiler angesichts der Ansammlung nüchterner Industrie- und Fabrikanlagen. Dann fuhr ihre

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