Natürliche Selektion (German Edition)
bekannt, wo ein regelrechter Graumarkt für Modafinil entstanden ist. Die Droge ist an gewissen Eliteschulen geradezu zum Standard geworden.« Dieser Exkurs galt weniger ihrer Führerin, als Audrey. Leo nahm an, dass ihre Gesprächspartnerin die Problematik sehr wohl kannte.
Wieder stimmte Ruth Seiler ohne weiteres zu: »Das sind unerfreuliche Entwicklungen. Aber sollen all die Menschen, die Hilfe brauchen, auf solche Medikamente verzichten, nur weil die Gefahr des Missbrauchs besteht? Sie sind sicher mit mir einverstanden, dass die Antwort nur ein klares Nein sein kann.«
Recht hatte sie. Trotzdem hinterließ dieses Dilemma jedes Mal ein schales Gefühl. Ruth Seiler führte sie im Eiltempo durch das letzte Gebäude mit der fast vollständig automatisierten Abfüllanlage. Nur zwei, drei Frauen in weißen Overalls überwachten die gigantische Maschine. Viel gab es hier nicht mehr zu entdecken. Leo begriff, dass dies wohl das Ende ihrer Forschungsreise zu den Geheimnissen von RDC war. Zeit, das wichtigste Thema anzuschneiden. Die Schichtleiterin hatte ihnen eben die eindrücklichen Produktionszahlen geschildert, als Leo unvermittelt fragte: »Beliefern Sie nicht auch die Reha-Klinik des Colonel hier auf Puerto Rico?«
Ihre Führerin und die Schichtleiterin schauten sie verstört an, als spreche sie plötzlich Chinesisch. Ruth Seiler erholte sich als Erste. Sie zog sie regelrecht von der Angestellten weg zum Ausgang, während sie versicherte, keine solche Reha-Klinik zu kennen.
Leo ließ nicht locker: »Ich glaube mich zu erinnern, so etwas gehört zu haben. Ist allerdings schon eine Weile her. Es kann natürlich sein, dass die Klinik gar nicht mehr existiert.«
»Wie gesagt«, murmelte die Forscherin undeutlich. »Ich weiß nichts davon, tut mir leid.« Sie geleitete sie schweigend zum Empfangsbereich zurück. »Ich fürchte, damit endet unsere Tour«, sagte sie schließlich. »Falls Sie noch weitere Fragen haben, können Sie mich jederzeit anrufen. Meine Karte haben Sie ja. Möchten Sie sich noch in unserer Cafeteria erfrischen, oder soll ich Sie gleich zurückfahren?«
Nur das nicht , dachte Leo erschrocken. »Vielen Dank, aber machen Sie sich keine Umstände. Wenn Sie uns bitte einfach ein Taxi rufen. Wir warten so lange in der Cafeteria. Besten Dank noch mal für die Führung. War sehr aufschlussreich.«
Aufschlussreich war das richtige Wort. Fachlich war der Ausflug ein Erfolg, und die Reaktion auf ihre letzte Frage bewies, dass sie in ein Wespennest gestochen hatte. Sie wusste jetzt, dass man nicht über den Colonel und die Klinik sprechen wollte, aber das war auch schon alles. »Einmal mehr in der Sackgasse, was meinst du?«, seufzte sie entmutigt, als sie sich an den Tisch setzten.
Audrey trank einen Schluck des starken Gebräus, bevor sie antwortete: »Ja und nein, würde ich sagen.«
»Wir wissen nichts Neues.«
»Stimmt nicht, Maman. Wir wissen, dass die etwas wissen. Das ist schon etwas. Und ich weiß etwas, was du nicht weißt.«
»Lass die Sprachspiele. Mir ist nicht ums Lachen.«
Audrey schmunzelte und versuchte sie zu trösten: »Ich glaube, die Fahrt hierher hat sich gelohnt. Wir konnten ja nicht erwarten, dass sie gleich all ihre Leichen aus dem Keller holen.«
»Schon klar. Sie wollen nicht über den Colonel reden. Mehr haben wir nicht erfahren. Und was nützt uns das?«
»Es gibt noch etwas anderes, worüber sie nicht reden wollen. Als du dich mit den Fach-Chinesen unterhalten hast, habe ich mit Angestellten über die Fabrik gesprochen. Und siehe da: sie haben mir bereitwillig alle Einzelheiten erklärt, nur über das große Haus am Fuß des Hügels wusste niemand Bescheid. Eigenartig, nicht wahr?«
»Irgendjemand wird wohl wissen, was dort los ist.«
»Eben«, antwortete Audrey nur.
Die Stimme einer Frau unterbrach ihre Unterhaltung: »Entschuldigen Sie, darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?« Es war die Schichtleiterin aus der Abfüllanlage.
»Selbstverständlich«, nickte Leo verwundert.
Die Frau setzte sich und rührte umständlich in ihrem Kaffee, bevor sie zögernd zu sprechen begann: »Ich – musste noch etwas loswerden. Sie haben das Gebäude so plötzlich verlassen.«
»Wir wurden so plötzlich hinauskomplimentiert«, lächelte Audrey boshaft.
»Ja, tut mir leid. Ich hätte Ihnen gerne etwas über die Klinik gesagt.«
Leo unterdrückte mit Mühe einen freudigen Ausruf. Mit zitternder Hand führte sie ihre Tasse zum Mund, um ihre Aufregung zu verbergen. Die Frau tat es
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