Natürliche Selektion (German Edition)
krankhafte Ängstlichkeit. Wo war ihre Selbstsicherheit geblieben?
Ungehalten schob sie die Gedanken zur Seite, versuchte sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die sie hierher geführt hatte. Schatzkarte war das Stichwort, mit dem sie der alte Professor auf die richtige Spur gelenkt hatte, wie sie glaubte. Eine dünne Spur nur, eine schwache Hoffnung, aber immerhin ein Anfang. Wenn es stimmte, dass die Mitglieder des Geheimbundes einen toten Briefkasten in diesen Gebäuden benutzten, um ihre Treffen zu vereinbaren, dann musste er sich im öffentlich zugänglichen Teil befinden. Da der Ort solcher Treffen wohl jedes Mal änderte, war der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass sie tatsächlich eine Landkarte oder einen Stadtplan benutzten, um ihn bekanntzugeben. Und im ganzen Komplex der gigantischen Bibliothek mit ihren dreißig Millionen Dokumenten und Büchern gab es nirgends so viele öffentlich zugängliche Karten und Pläne wie im Saal M. Doch auch dieser Saal war groß, die Auslagen unübersehbar. Wo sollte sie beginnen? Sie fand ihren Gedankenblitz mit einem Mal nicht mehr gar so brillant.
Ihr Telefon summte aufdringlich. Sie fuhr mit der Hand in die Tasche und schaltete es nach einem schnellen Blick auf das Display aus. Audrey musste warten. Sie steckte das Gerät weg und erstarrte. Ihre Hand berührte ein Stück Papier, an das sie nicht mehr gedacht hatte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Papierserviette aus der Tasche zog, auf die ihr Informant seine letzten Zeichen gekritzelt hatte. Sie legte das Papier auf den Tisch und strich es vorsichtig glatt. Es war ein ganz anderes Bild als die übliche Aneinanderreihung belangloser Mäander, Sternchen, Häuschen und Kleckse. Es sah eher aus wie eine chemische Formelsammlung, der sie allerdings auch keinen Sinn abgewinnen konnte. Einzig ein bekanntes Symbol wiederholte sich auffallend häufig in stets leicht abgewandelter Form: H 2 O, die chemische Formel für Wasser. Die Schreibweise unterschied sich von allem, was sie bisher gesehen hatte. Nicht nur malte er die 2 in der Mitte gleich groß wie die Buchstaben, sondern er strich auch das O für Sauerstoff konsequent durch. Das Symbol las sich eher wie: H2. Sie starrte das Gekritzel auf dem Zettel lange an, ohne irgendeine Bedeutung darin zu erkennen. Was wollte ihr der tote René Jacob mit dieser verwirrenden Zeichnung sagen? Schließlich steckte sie die Serviette ernüchtert wieder in die Tasche, aber das sonderbare Zeichen für Wasser ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. So fremd es ihr erschien, so glaubte sie doch, es schon einmal gesehen zu haben.
Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu. Ihr Blick wanderte über die lange Reihe der Büchergestelle an den Wänden. Ein Buch nach dem andern aufzuschlagen und nach Hinweisen zu suchen, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Wo fanden diese Treffen statt? Allein aufgrund von Rosenbergs Liste glaubte sie nicht daran, dass sie außerhalb Frankreichs suchen musste. Diese Annahme schränkte den Kreis der verdächtigen Bücher zwar ein, aber es blieben immer noch Hunderte in diesem Raum. Paris? Warum nicht. In dieser Stadt gab es genug diskrete Orte, die sich für geheime Treffen eigneten. Sie stand auf und ging zu den Regalen mit historischen und aktuellen Stadtplänen. Veraltete Pläne nützten nicht viel, wenn man sich im heutigen Paris verabreden wollte, also konzentrierte sie sich auf die neusten Exemplare.
Sie wählte den umfangreichsten Plan aus und wollte damit an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, zog sich aber blitzschnell wieder zwischen die Gestelle zurück. Noch einmal begann ihr Herz wie wild zu schlagen, denn von der Tür her näherte sich der smarte Geschäftsmann von der Place Jussieu. Durch die Lücken zwischen den Büchern sah sie, wie er auf sie zukam. Schon schaute sie sich hilfesuchend um, doch sie war allein in diesem Bereich des Saals. Reglos stand sie hinter der Bücherwand, wagte kaum zu atmen. Noch zwei Schritte, und er war bei ihr, musste sie sehen. Im letzten Moment drehte sie ihr Gesicht zur Wand, doch er ging achtlos an ihr vorbei zu einem andern Regal. Ohne lange zu suchen, nahm er einen dicken Atlanten vom Gestell und setzte sich an einen nahen Tisch. Er wollte offensichtlich nichts von ihr, trotzdem wagte sie sich nicht aus ihrem Versteck. Sie beobachtete ihn weiter, so gut es ihr Platz zwischen den Büchern erlaubte. Er schien schnell zu finden, was er suchte, schrieb etwas auf einen Notizzettel, dann
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