Natürliche Selektion (German Edition)
Computer. Als er ihren fragenden Blick sah, entgegnete er: »Wie bitte? Ach so – Hirnkosmetik. Vorstellen kann ich mir vieles, allerdings ...« Er stockte, schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, ich treffe mich ungefähr jede Woche mit dem Oberstaatsanwalt. Ich kenne ihn seit seiner Studienzeit, und es fällt mir schwer, ihn mit so etwas in Verbindung zu bringen.« Der Ausdruck, mit dem sie ihn ansah, verriet deutlich, dass sie seine Antwort nicht im Geringsten befriedigte. Vielleicht sah er sich deshalb genötigt, hinzuzufügen: »Ich kann mich ja einmal diskret umhören.« Er raffte die Papiere zusammen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, steckte sie in eine Aktenmappe und erhob sich. Auf seinem Gesicht erschien wieder das vertraute, verbindliche Lächeln, als er sich entschuldigte: »Ich habe leider einen Termin. Wie gesagt, ich halte die Ohren offen, Ihnen und Michel zuliebe.« Sie war schon an der Tür, da fügte er etwas unsicher hinzu: »Ich kann Sie wohl nicht von der weiteren Suche nach der Schatzkarte dieser Illuminati abhalten, wie?«
Der Satz traf sie wie ein Blitz. Sein missglückter Scherz brachte sie auf einen Gedanken, den sie sofort überprüfen musste. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, nochmals die BnF aufzusuchen. Sie schüttelte nur stumm den Kopf und verließ Fabres dunkles Büro. Am Ausgang schlug ihr schwüle, feuchte Luft entgegen, die ihr für einen Moment den Atem raubte. Kein Lüftchen regte sich. In der Nacht zuvor hatte es geregnet und nun heizte die Sonne durch die Wolkendecke und verwandelte Paris in eine einzige Sauna. Aber es war nicht die drückende Hitze, die ihr den Schweiß auf die Stirn trieb. Der Polizist, der sein Motorrad am Strassenrand geparkt hatte, ängstigte sie. Er beobachtete die Passanten an der Treppe zur Metrostation, schien seelenruhig auf sein Opfer zu warten. Sie blieb unvermittelt wie versteinert stehen, dass der smarte Geschäftsmann hinter ihr nicht anders konnte, als sie anzurempeln.
»Excusez moi, Madame. Tut mir leid. Alles in Ordnung?«
Sie nickte, ohne den Uniformierten aus den Augen zu lassen. Der Geschäftsmann lächelte aufmunternd zurück und ging weiter auf die Treppe zu. Geriet sie neuerdings beim Anblick eines Flics in Panik? Der Mord an der Rue de Seine setzte ihr offenbar doch mehr zu, als ihr lieb war. Mit gesenktem Kopf folgte sie dem Geschäftsmann im Strom der Passanten zur Station, ohne dass der Ordnugshüter sie beachtete.
Bibliothèque Nationale De France, Paris
Ihr Geisteszustand bereitete Leo allmählich ernste Sorgen, denn auf der ganzen Fahrt von Jussieu zur Bibliothèque bedrückte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Beim Umsteigen an der Gare d’Austerlitz ließ sie sich absichtlich viel Zeit, hörte eine Weile dem bärtigen Musiker zu, der mit Händen, Füssen und Mund ein ganzes Klezmerorchester mimte. Es half nichts. Wieder tauchten dieselben Gesichter im Wagen der S-Bahn auf. Und jetzt, auf der Freitreppe zum Osteingang der neuen Bibliothek, vernahm sie Schritte, die sich schnell näherten. Hier draußen fühlte sie sich schutzlos. Die Nackenhaare sträubten sich. Sie beschleunigte ihre Schritte, stürzte geradezu durch die Glastür und blieb schwer atmend mitten in der Eingangshalle stehen. Erst jetzt wagte sie einen Blick zur Seite, sah den Mann, dessen Schritte sie so erschreckten. Sie kannte ihn. Er hatte sie an der Place Jussieu angerempelt. Zufall? Sie spürte, wie ihr das Blut in die Schläfen schoss. Ihr Puls erhöhte sich, aber der Geschäftsmann beachtete sie nicht, ging an ihr vorbei zu den Aufzügen in der Tour des Lois. Dorthin wollte sie auch.
Zögernd, mit großem Abstand, folgte sie ihm. Ihr Herzschlag beruhigte sich keineswegs, als der Lift mit ihm ins Rez-de-jardin hinunterfuhr. Auch ihr Ziel befand sich im Untergeschoss: Saal M, Cartes et plans, der Lesesaal der Geografen. Hier unten kannte sie sich nicht aus. Ihre Besuche in dieser hypermodernen Bibliothek beschränkten sich üblicherweise auf das Zwischengeschoss mit den Abteilungen für Humanwissenschaften. Vorsichtig spähte sie um die Ecke, bevor sie den langen Korridor betrat. Der Mann war nicht mehr zu sehen. Sie eilte an der endlosen Flucht von Türen der Rechtswissenschaften vorbei, und atmete erst auf, als sie im Saal M auf einen Stuhl sank. Sie bemerkte, dass ihre Hände leise zitterten, blieb reglos sitzen. Während sie sich nach und nach beruhigte, stieg der Ärger in ihr hoch. Ärger über sich selbst und ihre schon beinahe
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