Natürliche Selektion (German Edition)
saß er mit dem weißen Buch in der Hand unter der Markise der Bar du Marché, wie sie vereinbart hatten. Das leere Bierglas auf dem Bistrotischchen und der volle Aschenbecher zeugten stumm davon, dass er schon eine Weile auf sie wartete. Sein Gesicht war grau und eingefallen wie das eines alten Mannes. Die Backenknochen zeichneten sich ab, aber die schwarzen Augen unter der Baskenmütze sprühten vor Leben und musterten sie mit stechendem Blick.
»Monsieur Jacob?«, fragte sie und setzte sich auf sein stummes Nicken hin.
»Hat Rosenberg Sie geschickt?«
»Ich habe mich selbst geschickt. Aber ich habe mit Professor Rosenberg gesprochen, ja.«
»Rosenberg ist in Ordnung«, brummte er. Rosenberg gehörte offenbar zu den Guten, nicht zu den Schweinen.
Sie wollte keine Zeit verlieren und kam gleich auf den Punkt: »Ganz im Gegensatz zum Colonel?«
»Aber sicher. Geben Sie mir noch einen aus?« Er zündete fieberhaft die nächste Zigarette an und winkte dem Kellner. Bevor er bereit war zu reden, trank er einen großen Schluck aus dem neuen Glas. »Wissen Sie, der Colonel hat mir mein Leben versaut. Solange er einen leiden kann und man schön nach seiner Pfeife tanzt, geht alles wie geschmiert. Akademische Laufbahn gesichert, steile Karriere unvermeidlich. Geld wie Heu, Siebenzimmervillen in Paris und an der Côte inklusive. Damals fand ich diese Aussichten richtig geil, wissen Sie. Ich war einer dieser Idioten. Aber ich habe nicht am ›X‹ aufgehört, weil mich plötzlich die Weisheit übermannte. Mir ging ein ganz anderes Lichtlein auf.« Er wirkte gehetzt, kritzelte aufgeregt auf eine Papierserviette, während er sprach. Die Wörter sprudelten aus seinem Mund, als hätten sie lange darauf gewartet. »Eines Tages kam ich ihm auf die Schliche«, fuhr er fort, wobei er sie mit einem wilden Blick streifte. »Das Schwein hat die Ergebnisse meiner Doktorarbeit laufend an eines seiner privaten Forschungsinstitute weitergereicht. Das Schlimmste aber war, dass sie meine Arbeit für eine Entwicklung verwendet haben, die ich ethisch nicht gutheißen konnte – und immer noch nicht kann.«
»Brain Enhancement, Hirnkosmetik«, warf sie erregt ein.
»Genau, woher ...« Er stockte. Sein Blick wanderte unruhig der Strasse entlang. »Was will der Flic bloß hier? Nicht hinsehen!«
»Was ist los?«
»Der Kerl auf dem Motorrad fährt schon zum dritten Mal an uns vorbei und beobachtet uns, verdammt. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, Hirnkosmetik. Er war richtiggehend besessen von der Vorstellung, die Leistung des Gehirns pharmakologisch zu steigern. Zu diesem Zweck waren ihm alle Mittel recht. Es gab sogar so etwas wie einen Geheimbund, mit dem er mich kaufen wollte. Ich lehnte entschieden ab, und das war mein Todesurteil.«
»Geheimbund?«
»Ich weiß nichts Genaues darüber. Niemand kennt die Leute, aber es müssen ganz mächtige Tiere dabei sein, und der Kreis erweitert sich ständig, wie er mir versicherte. Sie hinterlassen keine Spuren, es gibt nichts Schriftliches, außer versteckten Einladungen zu ihren Treffen. Ich weiß nur, dass sie ganz altmodisch tote Briefkästen benutzen. Der Wichtigste soll sich im Lesesaal der BnF befinden. Entschuldigen Sie – das Bier.« Er sprang auf und eilte in die Bar zur Toilette.
Als ihr Gesprächspartner wieder hinter dem Tresen hervor auf sie zukam, hielt plötzlich der Polizist auf seinem Motorrad dicht vor ihrem Tisch am Rand des Gehsteigs. Sein Gesicht war hinter dem heruntergeklappten Visier nicht zu sehen, aber sie bemerkte, wie er den Mann mit der Baskenmütze fixierte. Dann hob er blitzschnell seine Hand. Sie hörte zwei dumpfe Schläge. René Jacob ging lautlos zu Boden, und bevor irgendjemand begriff, was vor sich ging, war das Motorrad um die Ecke verschwunden. Die ersten entsetzten Schreie ertönten, Leute sprangen herbei, Gäste aus der Bar, Passanten von beiden Seiten der Strasse.
Leo kniete leichenblass neben den Mann, der eben noch im Begriff war, das Geheimnis um den Colonel endlich zu lüften, fühlte ihm mit zitternder Hand den Puls. »Er ist tot«, murmelte sie fassungslos. Der falsche Flic hatte ganze Arbeit geleistet. Die Gaffer verstellten die halbe Strasse. Der Verkehr an der belebten Ecke kam zum Erliegen. Erschöpft zog sie sich am Tisch hoch und bahnte sich auf wackligen Beinen den Weg durch die Menschentraube. In der Ferne hörte sie die Sirenen des herannahenden Krankenwagens. Sie ging einfach weiter, weg vom Ort der Tragödie, nutzte das
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