Natürliche Selektion (German Edition)
Gekritzel?«, fragte sie Leo misstrauisch beim Anblick der Papierserviette auf dem Couchtisch.
»Von – einem Typen, den mir Rosenberg genannt hat. Du weißt schon, der Bekannte des Ex-Psychiaters Tom.«
»Hat dieser Typ auch einen Namen?«
Ihre Mutter zögerte, als versuchte sie sich zu erinnern. »Jacob. Ja, René Jacob heißt er. Noch ein Aussteiger, der sich offenbar mit dem Colonel überworfen hat.«
Der Name kam Audrey nicht bekannt vor, aber was sie zuletzt gehört hatte, verblüffte sie in höchstem Maße. »Das heißt, er kennt den Colonel?«
Leo senkte den Blick und sagte leise, als wäre ihr die Antwort peinlich: »Kannte. Er – ist tot.«
»Das ist kein origineller Witz, Maman.«
»Bitterer Ernst. Kurz nachdem ich mit ihm gesprochen habe, ist er – erschossen worden. Der Mord im Bar du Marché, stand groß in der Zeitung.«
Sie war sprachlos. Kopfschüttelnd starrte sie das unverständliche Gekritzel an, bis ihr das aufgedruckte Logo auffiel. Wie ein Blitz durchfuhr sie die Erkenntnis und jagte einen Schwall warmes Blut durch ihre Schläfen. ›Bar du Marché‹ stand klar und deutlich auf dem Papier. »Du warst da, als es passierte!«, rief sie erregt. Leo antwortete nicht, blickte nur stur an ihr vorbei zur offenen Terrassentür hinaus. »Auch eine Antwort«, entrüstete sie sich. »Und, was meinen meine Kollegen vom Quai des Orfèvres?«
»Ich war nicht bei der Polizei.«
Es hörte sich harmlos an wie: »Ich war noch nicht am Briefkasten.« Audrey traute ihren Ohren nicht. »Mein Gott, weißt du, was du da sagst?« Sie konnte sich nicht mehr beherrschen und wurde laut: »Scheiße, bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du bist Zeugin in einem Mordfall. Die suchen dich bestimmt schon überall, und ich bin meinen Job sofort los, wenn das bekannt wird.«
»Du brauchst mich nicht anzuschreien. Das alles macht mich ganz schön fertig, das kannst du mir glauben. Aber was soll ich deinen Kollegen denn erzählen, bitte schön? Die ganze Geschichte? Die würden mich auslachen. Dass ich ihn zufällig getroffen habe? Auch das glaubt mir keiner.«
»Wie wär’s einfach mit der Wahrheit?«, gab sie giftig zurück. Am meisten ärgerte sie, dass sie Leo nicht wirklich widersprechen konnte. Die Wahrheit war in diesem Fall alles andere als glaubwürdig. Es klang fast wie eine Entschuldigung, als sie leise hinzufügte: »Ich glaube, du brauchst einen guten Anwalt.«
»Hab ich.«
»Also, worauf wartest du noch? Melde dich mit deinem Maître bei der Kripo. Sie werden dir schon nicht den Kopf abreißen. Schließlich hast du ihn ja nicht umgebracht. Und wenn der Anwalt sein Geld wert ist, wird ihm schon eine Erklärung einfallen, ohne dass du die ganze Geschichte aufrollen musst.«
»Ich habe keine Angst vor der Kripo, wenn du das meinst. Darum geht es nicht. Wir dürfen jetzt einfach keine Zeit verlieren. Das nächste Treffen dieser Geheimbündler findet morgen Abend statt, wenn ich die Botschaft aus der Bibliothek richtig interpretiere. Bis dahin müssen deine Kollegen warten.«
Leo sagte es so, wie sie früher »Nein« gesagt hatte. Widerspruch zwecklos. Trotzdem musste sie es versuchen: »Du bringst dich in Teufels Küche, und mich ebenso, hast du das kapiert?«
Ihre Mutter schaute sie nachdenklich an, dann schüttelte sie plötzlich den Kopf und lächelte verschmitzt: »Ich stand unter Schock, unfähig eine Aussage zu machen. Wer könnte das besser beurteilen als ich selbst? Na – wie hört sich das an?«
»Ich würde es dir nicht abkaufen«, murrte sie ungehalten.
Leo schmunzelte: »Sind ja zum Glück nicht alle so klug wie meine Tochter.« Sie deutete auf den Zettel mit dem Gekritzel des Ermordeten. »Nun, was sagt dein geschultes Auge zu diesen Zeichen?«
Rätsel hatten sie schon von Kindesbeinen an gefesselt, und sie war richtig gut beim Lösen kniffliger Aufgaben, bildete sie sich zumindest ein. So begann ihr Gehirn ganz automatisch, den Text zu analysieren. »Datum und Zeit hast du ja schon erkannt«, murmelte sie, während sie das Symbol am Anfang der Zeile einzuordnen versuchte. »H-zwei-null, was könnte das bedeuten?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Das heißt H 2 O, das chemische Zeichen für Wasser.«
»Blödsinn. Siehst du die durchgestrichene Null? Das ist mit Sicherheit nicht der Buchstabe O. In der Informatik verwendet man die durchgestrichene Null oft, um die Ziffer Null vom Buchstaben O zu unterscheiden. Dieses Zeichen ist keine chemische Formel, Frau Doktor. Es
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