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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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stellte er den schweren Band wieder zurück und verließ den Lesesaal.
    Ich muss übergeschnappt sein , seufzte sie im Stillen, während sie mit dem Stadtplan in der Hand und einem hohlen Gefühl im Bauch an ihren Tisch zurück schlich. Zuerst blätterte sie durch das gesamte Straßenverzeichnis. Sie fand zwar einige handschriftliche Randnotizen, aber keine erweckte den Eindruck, eine wichtige Botschaft zu enthalten. Auch der Plan selbst gab kein Geheimnis preis. Die eingezeichneten Kreuze und Kreise mochten alles Mögliche bedeuten, kamen aber kaum als Kennzeichnung eines aktuellen Treffpunkts infrage. Frustriert legte sie den Plan ins Regal zurück. Sie ließ nachdenklich ihren Finger über die andern Karten und Bücher mit Straßenverzeichnissen gleiten. Wahrscheinlich war sie doch auf dem Holzweg. Panische Angst vor falschen Verfolgern und verbissenes Suchen nach der Nadel im Heuhaufen – keine guten Zeichen. Die Geheimgesellschaft konnte sich genauso gut außerhalb der Hauptstadt treffen.
    Sie suchte das Regal der Atlanten für Frankreich und stellte verblüfft fest, dass sie dort stand, wo sich vor kurzem der Geschäftsmann bedient hatte. Ein dickes, gelbes Buch im Großformat war es, sicher an die fünfhundert Seiten, und es steckte genau vor ihrer Nase in der Ablage. »Ich Idiot«, schimpfte sie verhalten und schlug sich an die Stirn. Der aktuelle Michelin-Atlas – natürlich! Der Prototyp französischer Strassen- und Reiseatlanten. Sie griff nach dem verheißungsvollen Buch, aber eine kräftige Männerhand kam ihr zuvor.
    »Entschuldigen Sie, darf ich?«, fragte ein elegant gekleideter Herr, nicht unähnlich dem Geschäftsmann von vorhin. Er schien sehr in Eile zu sein.
    Intuitiv zog sie die Hand zurück, tat so, als interessierte sie der Michelin nicht und antwortete beiläufig: »Aber sicher.« Der Mann setzte sich an einen Tisch, blätterte kurz, dann zückte er den Schreibstift, notierte sich etwas, genau wie sein Vorgänger. Wenig später stand der Atlas wieder an seinem Ort, und der Fremde war verschwunden.
    Auf einer Skala von eins bis zehn stieg ihr Interesse am gelben Buch in diesem Augenblick auf eine glatte Zehn. Sie schnappte sich das wertvolle Stück und zog sich an ihren Tisch zurück, bevor sich noch jemand Notizen machen musste. Der Atlas lag mit der Rückseite nach oben auf dem Tisch, so wie sie es beim letzten Benutzer gesehen hatte. War das der tote Briefkasten? Das Adrenalin in ihren Adern jedenfalls bestätigte die Vermutung. Erregt schlug sie die letzte Seite auf, begann aufmerksam durch den Index zu blättern. Die letzten zwanzig Seiten enthielten keinerlei Randnotizen. Ganz im Gegenteil, das Buch wirkte nahezu unbenutzt, wie frisch ab Presse. Ihre Zuversicht schmolz dahin, und nach vergeblicher Suche im ganzen Stichwortverzeichnis blieb nichts mehr davon übrig. Aber die Information, die sich die Herren so fleißig notiert hatten, musste auf diesen letzten Seiten sein. Ärgerlich klappte sie den Atlas zu, lehnte sich zurück, schloss für einen Moment die Augen, um sich zu beruhigen.
    Als sie wieder auf das Buch blickte, sah sie die hintere Umschlagklappe heraushängen. Mechanisch hob sie den Deckel und schob sie zurück, wie es sich für ordentliche Leute geziemt. In diesem Augenblick traf sie die Erkenntnis wie ein Schock. »Wie blind kann man eigentlich sein«, schimpfte sie laut, dass die zwei andern Besucher in ihrer Umgebung irritiert aufschauten. Ihre fiebrigen Hände schlugen den Deckel auf, falteten die Klappe des Schutzumschlags wieder nach außen, und da lag sie vor ihr, die Botschaft, die sie suchte. Vor Aufregung verschwammen die Buchstaben und Zahlen vor ihren Augen, aber die seltsame Wasserformel sah sie sofort: H2. Ihr Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Ein betäubendes Glücksgefühl durchströmte sie. Es war, als hätte sie Michel wieder gefunden. Sie brauchte eine Weile, bis sie fähig war, den Text ruhig abzuschreiben:
     
    H2  : 48.4501389 1.48988889 0407 2200
     
    Die kryptischen Dezimalzahlen sagten ihr nichts. Die letzten beiden Zahlen aber bedeuteten wahrscheinlich Datum und Zeit, und das Datum gemahnte zur Eile. In zwei Tagen war der vierte Juli. Unendlich erleichtert und nicht wenig stolz auf ihre Detektivarbeit verließ sie die Bibliothek. Auf dem Weg zur Metro wählte sie Audreys Nummer. Jetzt waren die echten Detektive gefordert. An Verfolger dachte sie nicht mehr.
Butte Aux Cailles, Paris
    Audrey rümpfte die Nase. »Woher stammt dieses

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