Natürliche Selektion (German Edition)
formten sich auf dem blauen Grund:
Und heute:
Die angespannte Ruhe hielt an, bis die nächste Zeile erschien:
Homo sapiens 2.0
Tosender Beifall. Die Leute sprangen von den Sitzen hoch, als bedankten sie sich für eine außerordentliche künstlerische Darbietung. Während der Applaus unvermindert anhielt, entstand das Foto einer blutroten Kapsel mit der deutlich lesbaren Prägung ›Alpha-III‹ auf der Leinwand.
Audrey spürte den festen Griff ihrer Mutter am Arm. Leo schaute sie mit triumphierendem Blick an, lächelte zufrieden, sagte aber nichts. Was sich vor ihren Augen abspielte, brauchte sie nicht mehr zu kommentieren. Es war nichts weniger als die glanzvolle und haarsträubende Bestätigung ihrer ungeheuerlichen Vermutung.
Der Beifall ebbte ab, die Leute setzten sich wieder und eine unbekannte Stimme sagte feierlich: »Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Verbündete, begrüßen Sie mit mir den Mann, der diese Vision hatte, dessen Genie, Entschlossenheit und eisernem Willen wir diesen entscheidenden Durchbruch verdanken, den Mann, den wir alle als unseren Colonel kennen und schätzen gelernt haben.«
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Der Gesuchte befand sich in diesen Mauern, vor ihrer Nase und blieb doch unsichtbar. Beim Wort Colonel hatte Leo leise gestöhnt. Auch sie versuchte verzweifelt, einen Blick auf den Unbekannten zu erhaschen. Sie zog sich gar am Gitter hoch, vergeblich.
Einer der Männer am Tisch neben dem Rednerpult erhob sich, begleitet von frenetischem Beifall und begeisterten Rufen. Es herrschte eine ausgelassene, beinahe kindliche Freude, die Audrey dem vornehmen Publikum nicht zugetraut hätte. Der Mann, den alle Welt Colonel nannte, kehrte ihnen den Rücken und verschwand gleich darauf hinter der Blumenwand. Sie musste sich damit begnügen, den Ton seiner Rede aufzunehmen.
Leo hielt es nicht mehr an ihrem Platz. »Ich versuch’s beim andern Fenster. Ich muss diesen Kerl sehen«, zischte sie und schlich der Mauer entlang auf den Eingang zu.
Audrey versuchte sie zurückzuhalten: »Bist du verrückt? Dort gibt es keine Deckung!« Leo ging weiter. Drinnen wurde es ruhig. Zum ersten Mal hörte sie die Stimme des Colonels:
»Meine Freunde, ich danke Ihnen für die herzliche Begrüßung. Ich will mich kurz fassen. Treffen wie dieses wird es in den nächsten Wochen in Boston, Hongkong, Sao Paulo und Bangalore geben, aber was wir heute erleben, findet nur hier in Frankreich statt, wo alles vor zehn Jahren begonnen hat.«
Wieder brandete Beifall auf. Dann fuhr der unsichtbare Redner mit beschwörender Stimme fort: »Heute Nacht werden wir zum ersten Mal in der Millionen Jahre langen Geschichte des Lebens auf dieser Erde Zeugen eines von Menschen geschaffenen Quantensprungs der Evolution. Wir werden ...«
Weiter kam er nicht. Seine Worte gingen im Tumult unter. Audrey verstand den Aufruhr nicht wirklich. Schade, dass Leo nicht zuhörte. Sie schaute sich um, sah sie aber nicht mehr. Der Redner konnte weitersprechen:
»Meine Freunde, wir werden hier und heute erleben, wie die ersten sorgfältig ausgewählten Freiwilligen unter Ihnen diesen Evolutionsschritt vollziehen. Diese unscheinbare rote Kapsel wird sie zu den Urmüttern und Urvätern einer völlig neuen Spezies von Menschen machen, dem Homo sapiens, wie wir ihn bisher kennen, geistig weit überlegen. Diese zwanzig jungen Freundinnen und Freunde sind die wahren Helden. Wir wünschen ihnen, und mit ihnen der ganzen Menschheit, eine von rationalem Verstand, Weisheit und Glück erfüllte, glanzvolle Zukunft.«
Ein Beifallssturm und ausgelassene Hochrufe begleiteten die jungen Leute aus den ersten Reihen der Zuschauer auf ihrem Gang zum Rednerpult. Das Spektakel erinnerte sie an den Abschlussball ihrer Schule. Eine Art Abschlusszeremonie war es auch, dachte sie bitter. Die Krönung jahrelanger Forschung mit gigantischem finanziellem Aufwand und einer ganzen Menge Leichen.
Sie beobachtete, wie die Auserwählten feierlich an den Tischen vorbeizogen, ihre Kapsel im goldenen Döschen erhielten und noch an Ort und Stelle mit bereitgestelltem Wasser schluckten. Eine Schluckimpfung gegen Dummheit, nicht übel. Etwas anderes sah sie nicht in diesem seltsamen Ritual, aber wenn tatsächlich zwei Milliarden Euros hinter der roten Pille steckten, musste es wohl mehr bedeuten. Die Vorgänge im alten Gemäuer befremdeten sie ebenso wie sie sie fesselten. Sie tauchte förmlich ein in die Szenen, die sie
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