Natürliche Selektion (German Edition)
lächelnd, steckte die Lampe in ihre Tasche zurück und schob das Brecheisen in die lose Schlaufe. Ein einziger, schneller Ruck genügte, und die Hebelwirkung sprengte Kette und Schloss auseinander. Die Teile fielen scheppernd zu Boden. Sie hielt den Atem an, zog sich in die dunkelste Ecke zurück und wartete. Selbst Leo ließ keinen Ton von sich hören, obwohl es ihr sehr schwer fallen musste. Nichts rührte sich im Garten. Den Männern am Tor war das Geräusch nicht aufgefallen. Vielleicht kam ihnen das ferne Donnergrollen zu Hilfe, das sich schnell näherte. Bald würden die ersten Regentropfen fallen. »Gute Nacht«, murrte sie leise. Sie waren beide nicht ausgerüstet für ein heftiges Sommergewitter im Freien.
»Komm schon«, zischte Leo, während sie das Gitter vorsichtig aufstieß. Die rostigen Scharniere knirschten viel zu laut, verzichteten aber gnädig darauf, zu quietschen. Der erste Blitz zeigte ihnen den Weg zum Seitenschiff des Klosters. Das vergitterte Fenster, dessen schwacher Lichtschein ihr schon vorher aufgefallen war, erstrahlte plötzlich taghell, als hätte man Scheinwerfer angezündet. Musik setzte ein. Ein Streichorchester, ein Quartett vielleicht, wie die deutlich vernehmbare, dunkle Stimme eines Cellos nahelegte. Das Licht erhellte einen Teil des Wegs, machte eine unbemerkte Annäherung schwieriger, doch es gab genug Büsche, die sie vor den Blicken der Torwächter schützten. »Das Fenster muss offen sein«, meinte Leo. »Versuchen wir es dort.«
Die Wahl war gut. Ein dichtes Gebüsch verdeckte die Sicht vom Tor und vom Eingang des Klosters her. Die große Öffnung reichte fast bis zum Boden. Ohne das Eisengitter hätten sie bequem einsteigen können, aber das war nicht nötig. Sie sahen und hörten auch so, was in diesem Teil der Kirche vor sich ging. Die vier Musiker, drei junge Frauen an den Violinen und der Bratsche, ein gesetzter Herr am Cello, hatten sich auf einem roten Teppich am gegenüberliegenden Ende des Seitenschiffs eingerichtet. In der Mitte des Raums stand ein Rednerpult, flankiert von vier Tischen, angeordnet wie ein großes Hufeisen, das sich zum Publikum im Hauptschiff öffnete. An jedem der Tische saßen zwei Männer oder Frauen. Jede und jeder trug ein blau-weißes Ordensband über der rechten Schulter, das bis zur linken Hüfte reichte, Kennzeichen ihrer offiziellen Funktion. Auf einer großen Leinwand hinter dem Rednerpult leuchtete strahlend weiß auf königsblauem Grund in riesigen Lettern das Zeichen, das sie seit kurzem kannten: H2.
»Hier sind wir richtig«, flüsterte Leo aufgeregt. Sie schlich auf die andere Seite des Fensters, kam wieder zurück und schimpfte gereizt: »Dieses Scheiß Grünzeug.«
Audrey verstand ihren Ärger. Das Rednerpult und die Tische versanken in einem Meer weißer und blauer Lilien. Gigantische Bouquets auserlesener Blumen versperrten ausgerechnet die Sicht auf die Redner. Es gab keinen Winkel, aus dem sie von diesem Fenster aus sehen konnten, wer am Pult stand. Trotzdem blieben sie auf ihrem Posten.
Leo zückte ihr Telefon, wohl um zu fotografieren. »Kein Blitz!«, zischte Audrey und legte die Hand auf den Arm ihrer Mutter. Gleichzeitig zog sie eine weitere Wunderwaffe aus der Tasche, die sie aus ihren Wagen geholt hatte, dann fügte sie flüsternd hinzu:. »Damit protokolliere ich alles.«
»Höchste Zeit«, brummte Leo und steckte das Handy wieder ein.
Ihr miniaturisierter Camcorder war kaum größer als ein Feuerzeug, verfügte über ein äußerst lichtstarkes Zoomobjektiv, mit dem sie einzelne Gesichter nahe heranholen konnte, und zeichnete bis zu zwei Stunden hochauflösende Bilder und glasklaren Ton auf. Das sollte genügen für ein lückenloses Protokoll dieser geheimnisvollen Veranstaltung.
Die Musik verstummte, verhaltener Applaus brandete auf. Das weiße Zeichen auf der Leinwand löste sich auf. An seiner Stelle erschien in ebenso großen Lettern der Text:
10 Jahre
Kein Ton war aus der Kirche zu vernehmen. Nur ferner Donner unterbrach die gespannte Stille. Das Gewitter war glücklicherweise vorübergezogen, ohne sich über Saint-André zu entladen. Der Text verschwand, ein zweiter erschien:
2'000'000'000 €
Es blieb mäuschenstill, das Publikum zeigte nicht die geringste Regung. Das dritte Bild erschien:
3’000 Verbündete
21 Nationen
»Also doch ein Geheimbund«, murmelte Leo kaum hörbar. Audrey beobachtete schweigend weiter durch den Sucher ihrer Kamera. Neue weiße Zeichen
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