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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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aufzeichnete, achtete nicht mehr darauf, was sich draußen in ihrer unmittelbaren Nähe abspielte, bis sie ein unterdrückter Schrei aus ihren Gedanken aufschreckte.
    »Loslassen, merde alors!«, rief ihre Mutter.
    Eine Männerstimme antwortete in schneidendem Ton, der sich anhörte, als zischte eine Schlange: »Sie haben hier nichts verloren. Mitkommen!«
    Audrey fuhr unwillkürlich zusammen, duckte sich zwischen Busch und Mauer. Ihr Puls raste, während sie mit äußerster Vorsicht auf die Stimmen zu kroch. Es musste so kommen. Warum konnte Leo nicht in der Deckung bleiben wie jeder andere vernünftige Mensch? Durch das Geäst musste sie zusehen, wie die beiden Torwächter ihre Mutter in die Zange nahmen und, ohne auf ihren lautstarken Protest zu achten, zum Eingang des Klosters schleppten. Ein erstickter Fluch entschlüpfte ihr. Warum musste sie die verdammte Pistole im Auto zurücklassen? Fieberhaft überlegte sie, was sie tun sollte. Nicht einmal die Polizeimarke hatte sie dabei, um Leo aus ihrer misslichen Lage zu schwindeln.
    Die Männer zerrten die Ertappte ins Haus. Sie durfte sie keinen Augenblick länger allein lassen. Mit wenigen Sprüngen war sie am Eingang. Sie spähte vorsichtig hinein. Der Vorraum war leer. Durch die dünne Holztür vernahm sie Stimmen und Gelächter aus dem Kirchenschiff. Die Zeremonie ging ungestört weiter. Eine zweite Tür führte in einen Nebenraum. Sie war nur angelehnt und aus dem Spalt drang Leos aufgeregte Schimpftirade. Sie musste rasch handeln, bevor die Gorillas auf sie aufmerksam wurden. Die Stimme ihrer Mutter erstarb zu einem dumpfen Gemurmel, als drückte ihr jemand die Gurgel zu. Höchste Zeit, Audrey! Einen Fuß hatte sie schon in der Tür, als ihr Blick auf den roten Alarmknopf fiel. Sie ballte die Hand zur Faust. Glas splitterte, und die schrille Sirene des Feueralarms brauste durch die steinalten Gewölbe, als kündete sie vom Sturm der apokalyptischen Reiter.
    Sie sprang geistesgegenwärtig zur Seite, als gleichzeitig beide Türen aufflogen. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, schossen die Männer des Sicherheitsdienstes an ihr vorbei ins Freie, zerrten die schweren Eisengitter am Eingang zum Garten auf und sorgten in wenigen Sekunden mit scharfen Befehlen für einen freien Fluchtweg. Die ersten vornehmen Damen und Herren rannten Hals über Kopf aus der Kirche. Nach kurzer Zeit herrschte ein Durcheinander im Nadelöhr des engen Vorraums, als stünde das ganze Gebäude in hellen Flammen. Auch Leo torkelte benommen aus dem Nebenraum.
    »Gott sei Dank«, rief Audrey griff ihr unter die Arme und zog sie zum Ausgang.
    Leo stolperte. Dann befreite sie sich vom Griff ihrer Tochter und knurrte wütend: »Der Dreckskerl hat mich gewürgt. Wo brennt’s überhaupt?«
    »Später, komm jetzt, nur weg hier.«
    Der Sicherheitsdienst hatte alle Hände voll zu tun, eine Panik zu verhindern. Sie schienen keinem der Männer aufzufallen, als sie das Tor passierten.
    Der Parkplatz lag schon beinahe hinter ihnen, als sie eine schneidende Stimme aufforderte, stehen zu bleiben. »Hände hinter den Kopf und schön langsam umdrehen.«
    »Tu was er sagt«, zischte sie Leo ins Ohr. Es war einer der schwarzen Männer, ein Hüne, doppelt so schwer wie sie, und er hatte sein wichtigstes Argument direkt auf ihre Brust gerichtet.
    Leo folgte widerwillig seinen Anweisungen. »Scheiße, was jetzt?«, platzte sie heraus. Sie schien sich mehr zu ärgern als zu ängstigen.
    »Jetzt gehen wir schön langsam zum Bus«, grinste der Mann hinter dem Schalldämpfer. Er sah nicht danach aus, als wollte er verhandeln, winkte nur kurz mit der Waffe, und sie setzten sich in Bewegung. Er folgte zwei Schritte hinter ihnen. Audreys Gedanken rasten. Fieberhaft überlegte und verwarf sie alle Möglichkeiten, diesem Albtraum zu beenden. Sie hatten das hoch geheime Treffen beobachtet, alles beinahe lückenlos protokolliert, waren elegant entkommen und jetzt das! Das Mindeste, was ihnen blühte, wenn sie diesen Kerlen in die Hände fielen, war die Vernichtung ihrer Aufzeichnungen. Das durfte sie nicht zulassen, aber so sehr sie sich auch das Gehirn zermarterte, mit dem Lauf einer zweifellos geladenen Pistole im Rücken blieb die Auswahl an guten Lösungen eher beschränkt.
    Sie hatten kaum fünf Schritte auf den Bus zu gemacht, da hörten sie einen dumpfen Schlag. Erschrocken drehten sie sich beide gleichzeitig um und sahen, wie der Hüne röchelnd zusammenbrach und wie ein nasser Sack auf dem Boden

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