Natürliche Selektion (German Edition)
nicht zu verkennen. Blitzschnell verbarg sie sich zwischen den Garderobeständern und wandte ihr Gesicht ab. Sie hatte keine Lust auf lange Erklärungen und fadenscheinige Ausreden. Ihre Situation war so schon peinlich genug. Was hatten die Mädchen überhaupt hier zu suchen? Sie brauchte nicht lange zu warten, bis sie erkannte, was die flotten Schwestern in ihrer Mittagspause ausgerechnet ins Babinski trieb. Statt rasch zu verschwinden, beobachtete sie, wie Charlotte und ihre Gefährtinnen auffällig umständlich einen Tisch neben einer Gruppe von Ärzten besetzten. Als sie sah, wem Charlottes überschwängliche Begrüßung galt, schoss ihr wieder das Blut in den Kopf. Ein heiß-kalter Schauer lief ihr über den Rücken, ihr Herz drohte stillzustehen. Dr. Simon, ihr Michel Simon, grüsste die Schwestern freundlich und wandte sich wieder seinem sehr attraktiven Gegenüber zu, einer rassigen Latina, wie sie im Buche stand. »Trottel«, murmelte sie leise vor sich hin und meinte damit keineswegs Dr. Simon. Mehr als lächerlich, ihr Benehmen, das wusste sie, und doch konnte sie den Blick lange nicht von seinem Rücken abwenden. So lange, bis er den Kopf drehte und sie sofort erkannte, als hätte sie ihn gerufen. Sie duckte sich unwillkürlich und wankte klopfenden Herzens hinaus, doch sie kam nicht weit.
»Dr. Bruno?«, rief er, noch bevor sie das Treppenhaus erreichte. Seine Stimme wirkte wie eine sanfte Berührung. Sie bekam Gänsehaut, wusste nicht, was sie tun sollte. Er stand neben ihr, bevor ihr verwirrter Geist entschieden hatte, ob sie weiterlaufen oder sich umdrehen sollte. »Dr. Bruno, das ist eine schöne Überraschung.«, lächelte er. Haltlos, hoffnungslos, glücklich, starr vor Schreck zugleich, ertrank sie im unergründlichen Umbra seiner Augen, wie es nur in ihrem neuen Universum möglich war. »Habe ich Sie erschreckt?«, fragte er besorgt, als sie nicht antwortete.
»Nein – ich hab Sie – nicht ...« Stotternd entschuldigte sie sich. Ihre Gedanken drehten sich sinnlos im Kreis. Es wollte ihr partout kein plausibler Grund für ihre Anwesenheit einfallen.
»Das ist jetzt das fünfte Mal«, lachte er.
Sie zuckte verstört mit den Achseln.
Er erklärte es ihr: »Sie haben sich bereits zum fünften Mal bei mir entschuldigt, Doktor. Ich habe genau nachgezählt.«
»Ach – das ist nur so eine Redensart von mir«, antwortete sie errötend. Gleichzeitig spürte sie den ausgeprägten Drang, sich für den Unsinn zu ohrfeigen, der über ihre Lippen kam. Ihr sonderbares Verhalten schien ihn glücklicherweise nicht weiter zu irritieren, denn er bemerkte unvermittelt mit leisem Bedauern in der Stimme:
»Ich sehe, Sie sind schon wieder auf dem Sprung. Schade, ich hätte Sie gerne auf einen Kaffee eingeladen, um unsere Unterhaltung fortzusetzen.«
Die wenigen noch aktiven rationalen Neuronen in ihrem Neocortex packten die Gelegenheit beim Schopf und ließen ausrichten: »Ach ja, ich bin leider sehr in Eile, tut mir leid.«
Wieder lachte er, diesmal ziemlich unverschämt und schallend, dass sich etliche Passanten nach ihnen umdrehten. »Nummer sechs«, belehrte er sie. Dann wurde er ernst und sagte: »Also gut. Wir müssen das anders machen, und das dürfen Sie mir nicht ausschlagen.« Er räusperte sich, musterte sie beinahe etwas gehemmt. Seine gefährlichen Augen drohten sie wieder zu verschlingen, als er weitersprach: »Ich bin um sieben hier fertig. Ich hole Sie um, sagen wir, halb acht ab, dann gehen wir beide gemütlich essen und können uns in Ruhe unterhalten. Ich kenne ein ausgezeichnetes Bistro in der Nähe. Einverstanden?«
Sie kämpfte erfolglos gegen den braunen Mahlstrom an, öffnete den Mund, als schnappte sie nach Luft, gab jedoch keinen Ton von sich.
Er übersetzte das als ein »Ja« und sagte sichtlich erleichtert: »Wunderbar, wo darf ich Sie abholen?«
Endlich fand sie die Sprache wieder. Ganz schwach drang ein Stimmchen aus der alten Welt an ihr inneres Ohr: Nein, tu das nicht, tu das auf keinen Fall! , doch sie sagte nur: »Ich bin in der Praxis.«
»Ich freue mich«, rief er ihr nach, während sie schon mit rotem Kopf aus dem Haus eilte.
In der kalten Novemberbrise kehrte sie schnell wieder in ihr gewohntes Universum zurück. Mit einem Schlag sah sie glasklar vor sich, was geschehen war. Er hatte sie eingeladen, schlimmer noch: sie hatte zugesagt! Technisch stimmte das nicht, aber sie hatte nicht nein gesagt. Die Folge des fatalen Vorfalls, den sie selbst provoziert hatte, war
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