Natürliche Selektion (German Edition)
nicht. Er sah die Spitze des Instruments nur undeutlich am Rand der Darstellung. Ohne auf die Konsole zu sehen, tastete er nach dem Joystick und fokussierte auf den Bereich, in dem er operierte. Sobald sein elektronisches Auge wieder präzise sehen konnte, justierte er den Laser mit der Rechten nochmals und setzte endlich den Schuss, der den letzten Ableger des Tumors verschmorte. Wie ein Meisterpianist, dessen Hände unabhängige Melodien, Akkorde und Takte spielten, die doch zu einem kunstvollen Ganzen verschmolzen, bediente er Laser und Konsole gleichzeitig, bis der Kopf des Instruments den Schädel verlassen hatte. »Fertig«, beruhigte er die Patientin. »Keine Sorge, es ist alles gut gegangen.« Diesmal musste er die kleine Wunde selbst verschließen, da seine Assistentin den OP mit dem bedauernswerten Gérard verlassen hatte. Jetzt erst spürte er, wie sich sein Puls beschleunigte. Er atmete tief durch, bemerkte die vor Schreck aufgerissenen Augen der Schwester nicht, auch nicht das verständnislose Kopfschütteln des Arztes, den man als Ersatz für Gérard alarmiert hatte. »Was ist mit Gérard?«, fragte er müde. Die Schwester konnte ihn beruhigen: Magenkrämpfe. Sein Kollege hatte wohl den Kohl in der Roulade nicht vertragen. Etwas blasser als üblich verließ er den Saal.
Es war glücklicherweise sein letzter Einsatz an diesem Tag. Er zog sich um und stürmte durch einen Hinterausgang aus dem Babinski, um den mit Sicherheit wartenden Journalisten zu entgehen. Seit Alains verheerendem Zeitungsartikel wollte jedes Käseblatt ein Interview und Fotos von ihm. Sie schreckten nicht davor zurück, ihn bis vor den OP zu verfolgen. Nach dieser Beinahekatastrophe fühlte er sich niedergeschlagen, schlaff. Nur so schnell wie möglich abschalten wollte er. Selbst für ein Gespräch mit Leo war er zu müde. Sie würde verstehen, wenn er sie für einmal in Ruhe ließ und in seinen eigenen vier Wänden übernachtete.
»Bonsoir, Docteur«, begrüßte ihn die Concierge am Fuß der Treppe zu seinem Appartement überrascht. »Entschuldigen Sie, ich nahm an, Sie seien schon zu Hause. Sonst hätte ich die beiden nicht hinaufgeschickt.«
»Die beiden?«
»Ja, eben sind ein Monsieur ... « Sie schob die Brille zurecht und las den Namen von ihren Notizen. »Monsieur Dubois und seine Frau zu Ihnen hinaufgegangen. Er sagte, sie kennen sich von der Klinik.«
»Dubois?« Michel kannte keinen Herrn Dubois, aber wie jeder Franzose wusste er, dass Dubois einer der zehn häufigsten Namen war. »Diese verfluchten Reporter«, schimpfte er, machte kehrt und ließ die verstörte Concierge stehen. Er mochte jetzt nicht mit solchen Leuten streiten. Entnervt klingelte er eine halbe Stunde später bei Leo.
»Tu einfach so, als wäre ich nicht da«, seufzte er zur Begrüßung und ließ sich schwer ins Polster ihres Sofas fallen. Erstaunlich, dass die Presse dieses Refugium noch nicht entdeckt hatte.
KAPITEL 3
Parc des Buttes Chaumont, Paris
D er Park auf den Buttes Chaumont wirkte beinahe ausgestorben. Nur wenige Leute, ein paar einsame alte Männer und Frauen am Stock, Mütter mit Kinderwagen und eine Gruppe junger Frauen mit ihren Fotoapparaten, Touristinnen wohl, verirrten sich an diesem Ostermorgen hierher. Wie jedes Jahr hatten die Pariser ihre Stadt über die Feiertage verlassen, um in einem Massenexodus aufs Land zu flüchten. Obwohl hier aufgewachsen, verstand der einsame Spaziergänger dieses zwanghafte Verhalten nicht. Warum sollte jemand diese Stadt verlassen wollen? Paris bot alles im Überfluss. Üppig knospende Natur wie hier, wunderbare Sonnenuntergänge über der Seine, Verkehrschaos, und all das in unmittelbarer Nähe erlesener Kultur und Küche. Was suchten diese Lemminge im Niemandsland jenseits des Bois de Boulogne?
Das warme Licht der Frühlingssonne ließ die mit Büscheln von Osterglocken übersäten Wiesen leuchten. Blühende Birnbäume und Büsche ragten aus dem roten Band der Tulpen am Fuß des Hügels. Ein lauer Wind wehte den intensiven Duft der rosa Blütenpracht des nahen Seidelbasts in seine Nase, der ihn an Gewürznelken erinnerte. Er kannte sich aus in der Pflanzenwelt, obwohl die Botanik längst nicht mehr sein Spezialgebiet war. Es gab wohl kaum eine Blüte, einen Strauch oder Baum, die er nicht auf Anhieb einordnen und benennen konnte. Aber nicht wissenschaftliche Neugier hatte ihn in den Park getrieben. Er war nur hier, um den schönen Tag zu genießen.
Ein Stück weiter vorne auf dem Weg zur
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