Natürliche Selektion (German Edition)
während er mühsam versuchte, das Geschmier auf der Windschutzscheibe loszuwerden.
»Da kenne ich genau das richtige Gegenmittel. Ein gediegenes kleines Hotel unten im Dorf mit einer traumhaften Küche. Könnte allerdings ausgebucht sein.«
»Mit der reizenden Begleitung wirst du schon ein Zimmer bekommen.«
Er zog es vor, sie schmollen zu lassen, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam zu einer Stelle, wo er wenden konnte.
Es begann zu dunkeln, als sie auf den Parkplatz an der Rue de la Gare einschwenkten. Er hätte es beinahe übersehen. Erst als sie die Stufen unter dem markanten Eckturm hinaufstiegen, sah er das bekannte Auto, und er stieß einen unterdrückten Fluch aus. Ohne auf ihren verwunderten Blick zu reagieren, eilte er voran zur Rezeption. Eine billige Kopie Humphrey Bogarts aus ›Casablanca‹ stand am Pult und füllte ein Formular aus. Michel rempelte ihn brüsk an, zog ihm den Zettel unter dem Stift weg und sagte freundlich lächelnd zur verdatterten Empfangsdame: »Monsieur Chevalier wollte gerade gehen.« Er packte seinen Freund Alain am Mantelkragen und dirigierte ihn zur Tür. »Lass uns und Lorenzo endlich in Ruhe, verdammt noch mal«, zischte er ihm ins Ohr. »Sei froh, dass du noch keine Klage am Hals hast wegen der grässlichen Bilder.«
Alain begann sich zu wehren, doch dann fiel sein Blick auf die Begleiterin seines zornigen Freundes. Er breitete grinsend die Arme aus, dann zückte er blitzschnell die Kamera, die er stets um den Hals trug, schoss ein Bild von Michel und seiner geheimnisvollen Schönen und verschwand zur Tür hinaus.
»Idiot!«, knurrte Michel leise. Er atmete tief durch und setzte wieder sein verbindliches Lächeln auf, als er sich den beiden Damen zuwandte. »Ich glaube, es ist gerade ein Zimmer frei geworden«, sagte er, während er den Arm um Leos Hüfte legte. »Wir nehmen auch ein Einzelzimmer mit schmalem Bett, nicht wahr, Schatz?« Dabei küsste er seine reizende Begleiterin, die nicht mehr wusste, wohin sie schauen sollte, zärtlich auf die Wange.
Hôpital Pitié-Salpêtrière, Paris
Diese Operation war äußerst heikel, selbst für Michels ruhige Hand. Der Tumor unten am Sulcus lateralis hatte sich auszubreiten begonnen und zwang ihn, den Laser gefährlich nahe an den Temporallappen zu führen. Die kleinste Unachtsamkeit hätte jetzt verheerende Folgen, würde das Sprachgedächtnis, die fundamentale Fähigkeit der Patientin, verbal zu kommunizieren, unwiederbringlich zerstören. Auf den beiden Monitoren verfolgte er die Spitze des Instruments. Er hielt den Atem an, während er den mikroskopischen Laserkopf mit einem sanften Daumendruck eine kurze Strecke vortrieb, die in Wirklichkeit nur wenige hundertstel Millimeter maß. Die Koordinaten für den letzten Schuss waren erreicht. Noch einmal kontrollierte er die Position in der räumlichen Darstellung auf den Bildschirmen. Sein Finger berührte den Auslöser. In diesem Augenblick geschah das, was jeder moderne Chirurg am meisten fürchtete: das Bild verschwamm, die Technik versagte ihren Dienst. Er war blind.
»Bild!«, befahl er dem Operateur an der Konsole hinter ihm. Die Hand am Laser blieb unbeweglich wie festgefroren, aber auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Sofort tupfte sie die OP-Schwester ab. »Gérard, Bild!«, sagte er nochmals, lauter, doch nichts änderte sich auf den Monitoren. Er hörte einen unterdrückten Schrei seiner Assistentin. Gleich darauf erfuhr er die Ursache der Katastrophe. Gérard war an seiner Konsole zusammengebrochen. Die Assistentin flüsterte ihm die vernichtende Nachricht ins Ohr, denn die Patientin war bei vollem Bewusstsein. Sie durften sie nicht beunruhigen, obwohl so etwas wie der größte anzunehmende Unfall im Gange war. Michel war nur theoretisch auf eine solche Situation vorbereitet. Seine Gedanken rasten. Die Assistentin kümmerte sich sofort um den bewusstlosen Gérard. Sie fiel als Unterstützung aus. Er musste sich in Sekundenbruchteilen entscheiden. Selbst der Abbruch der Operation war gefährlich, solange er nichts sehen konnte.
»Ich brauche die Konsole!« Sein Entschluss überraschte wohl nicht nur die Schwester, die das kompakte Pult sofort an seine Seite rollte. Seine Linke flog über die Tasten, als hätte er dies dutzende Male geübt, während sich die Hand am Laser nicht bewegte. Die tanzenden Flecke auf den Monitoren beruhigten sich, die gewohnten Schnittbilder erschienen wieder in alter Schärfe, aber der Bildausschnitt stimmte noch
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