Natürliche Selektion (German Edition)
geworden. Er musste ihr neidlos zugestehen, dass sein Yuppie-Appartement keinem Vergleich mit ihrer Residenz standhielt. So war es der natürliche Lauf der Dinge, dass nach und nach nicht nur seine Zahnbürste und das Rasierwasser, sondern auch seine Kleider und anderen persönlichen Sachen den Weg in ihre Schränke fanden. Führten sie nun schon die biedere Ehe, vor der es ihm stets aus unerfindlichen Gründen gegraut hatte? Kaum, nein, auf keinen Fall, wenn er an die knisternde Spannung dachte, die immer wieder von neuem zwischen ihnen funkte. Seien es die spritzigen Dialoge mit seiner scharfzüngigen Geliebten, ihre gnadenlose Demontage des schönen Scheins oder die unanständigen erotischen Experimente, mit denen sie sich gegenseitig überraschten, er empfand ihre Beziehung als eine einzige aufregende Achterbahn der Gefühle, alles andere als langweilige Routine. Er war sich sicher, dass sie ähnlich empfand. Sie wirkte ausgeglichen und im besten Sinne zufrieden, seit sie ihn in jener stürmischen Nacht sozusagen hierher geschleift hatte. Manchmal glaubte er, sie bis in die Tiefen ihrer Seele zu kennen, doch das gaukelte ihm wohl nur sein männlicher Stolz vor. Sein Verstand sagte ihm, dass die erfahrene Psychiaterin ihm genau den Teil von sich offenbarte, den sie wollte. Jedenfalls hatte sie ihm das Geheimnis ihres ›O-Punkts‹ noch nicht verraten, wie sie ihm oft mit schelmischem Lächeln versicherte.
»Audrey wird nicht kommen«, sagte Leo, als sie die Terrassentür aufstieß. »Sie hat Dienst über die Feiertage.« Irrte er sich, oder hielt sich ihre Enttäuschung in Grenzen? Leos Tochter war Lieutenant bei Interpol, Softwarespezialistin bei der Truppe, die sich mit dem organisierten Verbrechen befasste. Leo sprach nicht oft von ihrer Tochter. Er hatte inzwischen begriffen, dass sich die beiden Frauen nicht allzu gut verstanden. Audrey machte ihre Mutter für die Scheidung und damit für den Verlust des Vaters verantwortlich, obwohl sich der vornehme Monsieur Barrès damals mit seiner jungen Sekretärin in die Staaten abgesetzt hatte. Audrey Barrès nannte sie sich immer noch.
»Schade, ich möchte sie gerne endlich kennenlernen.«
»Das sieht dir ähnlich«, lachte sie.
»Nein, im Ernst, Leo. Findest du nicht, sie hätte ein Recht darauf, zu erfahren, was ihre Mutter so treibt?«
Leo rümpfte die Nase. »Schon, aber nicht am Telefon. Wir haben ja schon an Weihnachten versucht, sie einzuladen, aber sie scheint immer im Dienst zu sein.«
»Was dir nicht sonderlich zu schaffen macht, wie ich als neutraler Beobachter feststelle.«
Sie beugte sich von hinten über sein Gesicht, ließ ihn ihre Brüste unter der Bluse fühlen. »Neutraler Beobachter, wie?«, raunte sie mit der sinnlichen Stimme, die sie benutzte, wenn sie etwas im Schilde führte. Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss aufs Kinn, glitt elegant zur Seite und stand auf.
»Es ist Zeit«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. »Wenn wir in zwei Stunden essen wollen, sollten wir anfangen.«
»Wie du meinst«, seufzte sie enttäuscht.
Kochen kann auch sehr erotisch sein , hätte er beinahe geantwortet, aber er ließ es bleiben und folgte ihr grinsend in die Küche. Es sollte eine Premiere werden. Gemeinsam wollten sie die langsame Küche zelebrieren, sich mit allen Sinnen in den Genuss steigern, wie sie sich poetisch ausdrückte. Sein Problem war nur, dass er noch nie vor einem eingeschalteten Herd gestanden hatte. Sie gab ihm eine Schürze und legte den Zettel mit den Rezepten auf der Anrichte zurecht. Niemand konnte ihm vorwerfen, zwei linke Hände zu haben, aber das Knüpfen der Bändel hinter seinem Rücken überforderte ihn.
»Vielleicht hätte ich doch besser Edmond kochen lassen«, murmelte sie, während sie seine Schürze band.
»Edmond, immer dieser Edmond!«, stieß er mit gespielter Entrüstung aus. »Edmond, der Psychiater mit dem sonnigen Gemüt! Edmond, der Meisterkoch!«
»Korrekt, genau so ist er, mein Assistent«, lachte sie. »Wir kochen übrigens nach seinen Rezepten: Kreolische Hühnerbrust und einen feurigen Mangosalat. Dem könntest du dich widmen.« Sie stellte Tomaten, Olivenöl, Honig und ein Glas mit Sesamsamen bereit. Dann öffnete sie den Kühlschrank, winkte ihn herbei und sagte: »Ich brauche noch den Dijon-Senf, die dunkle Sojasoße, ein Stück Ingwer, zwei Knoblauchzehen und die roten Chilis. Ach ja und natürlich die Hühnerbrüstchen. Mal sehen, ob du das alles findest.« Gehorsam arbeitete er die Liste
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