Natürliche Selektion (German Edition)
Brücke spielten vier Buben mit Frisbees. Drei Scheiben waren ständig in der Luft. Er schaute den geschickten Jongleuren eine Weile zu und kehrte ihnen dann schmunzelnd den Rücken. Kaum hatte er sich umgedreht, schleuderte ein jäher Windstoß die Wurfgeschosse aus der Bahn, über die Köpfe der Knaben hinweg in seine Richtung. Als verfügte er über einen sechsten Sinn, wirbelte er herum und fing die zwei verirrten Scheiben mit schnellen Handgriffen auf. Im gleichen Atemzug flogen die Frisbees wieder auf die Jungen zu, die sein Kunststück mit offenem Mund beobachteten. Er ging lächelnd weiter. Seine geradezu legendären Reflexe funktionierten noch einwandfrei. Vom Rest seines Gehirns konnte er das seit Montag Abend nicht mehr behaupten.
Zwar hatte er seinen geheimnisvollen, gesichtslosen Begleiter schon vor Monaten bemerkt. Völlig unerwartet tauchte er auf, folgte ihm wie ein Schatten und verschwand ebenso plötzlich wieder. Nie kam er ihm nahe genug, dass er ihn hätte zur Rede stellen können oder auch nur sein Gesicht im Schatten der breiten Hutkrempe sehen konnte, aber es war zweifellos immer derselbe Mann in seinem Alter. Irgend ein harmloser Spinner, dachte er anfangs. Vielleicht auch nur ein unwahrscheinlicher Zufall. Jemand, der stets zur gleichen Zeit im gleichen Bus oder der gleichen Metro unterwegs war wie er. Äußerst unwahrscheinlich allerdings. Möglicherweise steckte doch mehr dahinter. Sein mysteriöser Schatten begann ihn ernsthaft zu beunruhigen, störte seine Gedanken bei der Arbeit.
Dann endlich, am letzten Montag, als er spät abends in der M4 nach Hause fuhr, nutzte er die Gelegenheit, ihn zu überrumpeln. Nur zwei weitere Passagiere saßen im Wagen, die an der Gare du Nord ausstiegen. Er war allein mit ihm. Mit flauem Gefühl im Magen stand er auf. Nach wenigen Schritten stand er neben dem Sitz des Unbekannten.
»Wer sind Sie, was wollen Sie von mir?«, fragte er barsch. Er war auf alles vorbereitet, aber nicht darauf, was jetzt geschah. Der Fremde erhob sich und streckte ihm stumm die Hand zum Gruß entgegen. Im grellen Neonlicht sah er zum ersten Mal sein Gesicht. Er erschrak so sehr, dass er zurücktaumelte und hart auf der Haltestange aufschlug, denn vor ihm stand ohne jeden Zweifel sein toter Freund Lorenzo Ricci, dem er, Michel und die andern vor Monaten auf dem Père Lachaise das letzte Geleit gegeben hatten.
René Sagan erinnerte sich nicht mehr, was er in jenem schrecklichen Augenblick getan hatte. Nur die schmerzhafte Druckstelle in seinem Rücken blieb ihm als Bestätigung, dass er das Ganze nicht bloß geträumt hatte. Er wusste nicht einmal, wie er am Montag nach Hause gekommen war, aber er hatte inzwischen gelernt, dass jene gespenstische Begegnung nur der Anfang seines Albtraums war. Lorenzo verfolgte ihn nun auch als stummer Schatten bei der Arbeit. Beim Blick in den Spiegel geschah es, dass er plötzlich sein Gesicht neben sich auftauchen sah. Und am Karfreitag hatte er zum ersten Mal zu ihm gesprochen. René war Naturwissenschaftler mit Leib und Seele. Er hatte die Leiche seines Freundes im alten Bauernhaus gesehen. In seiner rationalen Welt auferstanden keine Toten, und doch waren die Begegnungen mit Lorenzo so real wie die spielenden Kinder und duftenden Sträucher in diesem Park. Für seinen analytischen Verstand gab es nur eine Erklärung: Lorenzo war eine Wahnvorstellung, und sein Hirn nicht mehr imstande, Wahn und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Und noch etwas sagte ihm seine Vernunft: so konnte er nicht weiterleben.
Er stand auf dem höchsten Punkt der Brücke. Die Glocken der nahen Kirche des Heiligen Franz von Assisi begannen zu läuten. In der Ferne erklangen die ersten schweren Schläge der großen Glocke von Notre Dame. Ostern. Ein schöner Tag, um zu sterben. Er nahm die Ampulle aus der Hosentasche, brach den Hals entzwei und schluckte die bittere Flüssigkeit. Er blieben ihm genau drei Sekunden. Zeit genug, über das Geländer zu steigen, sich fallen zu lassen und sein junges und trotzdem nicht mehr lebenswertes Leben mitten im freien Fall auszuhauchen.
Butte Aux Cailles, Paris
Michel ließ sich von der Nachmittagssonne auf Leos Terrasse wärmen. Er lag ausgestreckt auf dem Liegestuhl, hielt die Augen geschlossen und lauschte schon seit geraumer Zeit dem Gesang eines Amselmännchens, das sein Revier im Geäst neben dem Geländer wunderbar melodiös verteidigte. Leos prachtvolle Dachwohnung war inzwischen mehr oder weniger auch sein Zuhause
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