Natürliche Selektion (German Edition)
ab, während sie Mangos, Zwiebel und Limette für seinen Salat vorbereitete. Kaum hatte er die Kühlschranktür geschlossen, gab sie die nächste Anweisung: »Du kannst vier Chilischoten abspülen, der Länge nach aufschneiden, entkernen und dann in feine Ringe schneiden. Drei gehen in den Salat, eine brauche ich fürs Huhn.« Er stand etwas ratlos vor dem Messerblock. Keines der Instrumente schien ihm geeignet für die Operation, die sie verlangte. So hielt er ihr die flache Hand hin und befahl seinerseits:
»Skalpell!«
»So läuft das also bei euch«, schmunzelte sie und zeigte auf das Messer mit der schärfsten Klinge. Die teuflischen Schoten reizten seine Schleimhäute, dass er den Husten nicht mehr unterdrücken konnte, und die Zwiebel, die Leo hackte, machte das Ganze auch nicht erträglicher. Sie hatte sichtlich ihren Spaß daran, wie er mehrmals ins Badezimmer rannte, um seinen Rachen zu beruhigen, sich die Hände wieder und wieder zu schrubben und die Tränen abzuwischen.
Was ihn am meisten verblüffte an diesem Experiment war die Erkenntnis, wie viel Vorbereitung und minutiöse Detailarbeit selbst dieses einfache Menu erforderte, bis das Fleisch endlich im Backofen schmorte und der Mangosalat im Kühlschrank in seiner scharfen Soße reifte. Ein würziger Duft verbreitete sich in Küche und Wohnzimmer, ließ durchaus auf gutes Gelingen hoffen. Er entkorkte eine Flasche Chablis, goss zwei Gläser des trockenen Weins ein und reichte ihr eins.
»Verkürzt unseren Magensäften die Wartezeit«, sagte er und stieß mit ihr an. Bevor er den Tisch in der Essecke des Wohnzimmers zu decken begann, schaltete er das Radio ein. Einen Fernseher besaß Leo nicht, und er hatte ihn noch nie vermisst. Er hörte dem Nachrichtensprecher nur mit halbem Ohr zu, bis der Name fiel, der ihn erstarren ließ:
Nach Angaben der Gendarmerie des 19. Arrondissement handelt es sich um den bekannten Bio-Chemiker Dr. René Sagan, der bereits als Kandidat für den Nobelpreis für seine Stammzellenforschung gehandelt wurde. Warum sich der junge Wissenschaftler im Parc des Buttes Chaumont von der Brücke gestürzt hat, ist nicht bekannt. Er war alleinstehend, und bisher ist kein Abschiedsbrief gefunden worden.
Der Teller entglitt seiner Hand. Er prallte auf den harten Boden und barst mit lautem Scheppern.
»Zuviel getrunken?«, rief Leo aus der Küche. Er antwortete nicht, suchte fieberhaft sein Telefon und wählte die Nummer der Polizei. Er achtete nicht auf seine Freundin, die ihn mit zunehmendem Befremden von der Tür her beobachtete. Es war schwierig, jemand an den Draht zu bekommen, der Auskunft geben wollte und konnte, aber nach drei oder vier vergeblichen Anrufen klappte es. Er stellte seine bange Frage. Nachdem er eine Weile stumm zugehört hatte, klappte er das Telefon mit einem resignierten »Danke« zu. »Was ist denn los?«, fragte Leo erschrocken, als er ihr sein blasses Gesicht zuwandte.
»René. Der zweite meiner Freunde hat sich heute Morgen das Leben genommen.«
Die entsetzliche Nachricht schockierte sie offensichtlich ebenso wie ihn. Sie stellte ihr Weinglas ab und kam mit ernstem Gesicht auf ihn zu. »Das ist furchtbar, Michel. Möchtest du darüber reden?«
Er wusste nicht, was er wollte, saß nur auf dem Sofa und schaute sie verständnislos an. »René – warum?«, murmelte er heiser. Leos nachdenklicher, fast ängstlicher Blick streifte ihn. An seine feurige Mango und das exotische Huhn dachten beide nicht mehr.
Place Jussieu, Paris
Michel ging unruhig im Korridor vor Damiens Büro auf und ab. Bei René bestand nach Aussagen der Gerichtsmedizin kein Zweifel. Es war Suizid. Offenbar wollte er ganz sicher gehen. Die mehr als zwanzig Meter hohe Brücke allein genügte ihm nicht, er hatte sich vor dem Sprung auch noch vergiftet. Was trieb einen jungen, erfolgreichen, hochintelligenten Menschen zu einer solchen Tat? Lange Gespräche mit Leo vermochten die Gedanken zwar auf die rationale Ebene zurückzuholen, aber eine Antwort auf seine Frage erhielt er nicht. Wie oft in schwierigen Situationen brauchte er den Rat seines Mentors. Damien schätzte er nicht nur wegen seines schier unerschöpflichen Wissens in allen Bereichen, die für ihn von Bedeutung waren, sondern ebenso wegen der um zwei Generationen reicheren Lebenserfahrung.
Mit festem Schritt kam der rüstige Professor aus dem Treppenhaus auf ihn zu und begrüßte ihn freudig: »Michel, gut dich zu sehen.«
»Danke, dass du so schnell Zeit für mich
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