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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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verblüfft fest, nicht das klassische griechische Gesicht ihrer Mutter. Audreys lebhafte, warme, braune Augen, ihre Wangengrübchen, wollten nicht recht zum unterkühlten Empfang passen, den sie ihm bereitete.
    Sie setzten sich im Wohnzimmer, und Audrey holte den Weißwein aus der Küche. So unterschiedlich die beiden Frauen auch sein mochten, die Art, wie sie wohnten, stimmte fast gespenstisch überein. Diese Dachwohnung mochte kleiner sein als Leos Pariser Wohnung, und die Terrasse fehlte, aber die Einrichtung, sogar die Aufstellung der Möbel, glichen sich auffallend.
    Leo warf ihm einen besorgten Blick zu, sagte aber nichts. Er konnte ihre Anspannung beinahe mit Händen greifen. Sie klammerte sich geradezu ans Glas, das Audrey ihr reichte. Um die stockende Konversation wieder in Gang zu bringen, entschuldigte er sich nochmals für die Verspätung: »Tut uns leid, dass wir uns verrechnet haben. Wir steckten ziemlich lange im Tunnel fest.«
    Dankbar griff Leo den Faden auf. Sie schmückte die banale Geschichte vom Zwischenfall in der verstopften Röhre mit blumigen Worten aus, nur um möglichst lange beim unverfänglichen Thema zu bleiben.
    »Warum in aller Welt seid ihr überhaupt durch den Tunnel gekommen?«, fragte Audrey am Schluss kopfschüttelnd. »Ihr hättet die Ausfahrt Vaise nehmen und hinten herum in die Saint-Barthélemy fahren können.«
    Leo schaute ihn vorwurfsvoll an. »Das haben wir alles deinem topmodernen Navigationsgerät zu verdanken.«
    »Wer wollte denn unbedingt in jenes Parkhaus – ganz in der Nähe – wie ich mich erinnere?« Wie ein altes Ehepaar, schoss ihm durch den Kopf, und Audreys Blick drückte exakt dasselbe aus. »Bleibt noch die philosophische Frage nach dem Schicksal des dicken Kindes, wenn wir nicht diesen Weg gewählt hätten«, fügte er schnell hinzu, um die Lage zu entspannen.
    Audreys Miene hellte sich nicht auf. Ohne den strengen Blick von ihm zu lassen, fragte sie: »Kannst du mir kurz in der Küche helfen, Leo?«
    Er lächelte seiner Geliebten aufmunternd zu. Die Zeit des Mutter-Tochter-Gesprächs war gekommen. Audrey schloss denn auch wie erwartet die Küchentür. Sie duldete keinen fremden Zuhörer. Wird auch Zeit , dachte er erleichtert, denn lange hätten sie die Konversation nicht mehr auf dem seichten Niveau halten können. Und die Rolle des störenden Dritten gefiel ihm auch nicht sonderlich.
    Die Frauen hatten sich viel zu sagen. Er hörte ihre gedämpften Stimmen, konnte jedoch nicht verstehen, was gesprochen wurde, und das war gut so. Er wartete lange im Wohnzimmer, blätterte in den Zeitschriften auf dem Couchtisch, ging ans Fenster, setzte sich wieder. Die Stube verwandelte sich allmählich ins Wartezimmer eines Arztes. Nur die andern Patienten fehlten und der Geruch war angenehmer.
    Mit einem Mal wurden die Stimmen aus der Küche lauter. Kurz darauf stürmte Leo mit rotem Gesicht ins Wohnzimmer. »Gehen wir!«, zischte sie mit mühsam unterdrückter Wut. Keine Frage, ein Befehl. Sie warf sich den Mantel über und war schon bei der Tür, als er aufstand und ihr bestürzt folgte. Audrey, nicht weniger erregt als ihre Mutter, stand unter der Küchentür und schaute ihm böse nach. Ihm fiel nichts Besseres ein, als sich zum überstürzten Abschied nochmals zu entschuldigen: »Tut mir leid«, sagte er mit verlegenem Lächeln. »Ich hätte Sie gerne näher kennengelernt, Audrey.«
    »Das glaube ich aufs Wort«, knurrte sie, laut genug, dass er es hörte.
    Leo wartete vor dem Haus auf ihn. Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie nieder. Ein Wasserfall ergoss sich über die Treppenstufen, und kleine Bächlein rannen ihr über das Gesicht, wuschen die Tränen aus ihren geröteten Augen. Er legte den Arm um sie, zog sie behutsam an sich.
    »Ich hab’s versucht«, schluchzte sie. »Ich hab versucht, vernünftig mit ihr zu reden, aber sie schafft es jedes Mal, mich bis zur Weißglut zu provozieren.«
    Schweigend küsste er sie auf die feuchte Wange und reichte ihr ein Taschentuch. Während sie die Augen trocken tupfte, lachte sie plötzlich gequält auf: »Eine schöne Psychiaterin bin ich. Unfähig, mit der eigenen Tochter zu sprechen.«
    Auch darauf wollte er keine Antwort geben. Stattdessen versuchte er sie mit seiner Jacke vor dem Regen zu schützen und sagte: »Wir sollten nicht hier draussen bleiben.« Als wollte er sie für den missglückten Besuch bestrafen, öffnete der Himmel seine Schleusen noch weiter. Durchnässt bis auf die Haut fanden sie

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