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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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schließlich Unterschlupf im kleinen Hotel, das er auf dem Weg zu Audrey bemerkt hatte. Als er dem Empfangschef erklären wollte, weshalb sie kein Gepäck hatten, zog Leo ihn weg und sagte laut und deutlich, dass es auch der Zeitungsleser in der Lobby hören musste:
    »Komm endlich, raub mir den Verstand, sonst verliere ich ihn!«
    Solche Sprüche war der gute Mann am Empfang offensichtlich nicht gewohnt. Er schaute ihr entgeistert nach. Michel zuckte nur die Achseln mit der vertraulichen Bemerkung: »Sie ist die Therapeutin.«
Autoroute du Soleil
    Vielleicht hing doch alles mit allem zusammen, wie tibetische Mönche und Quantenmechaniker glaubten, dachte Leo. Als die grünen Wiesen und Wälder hinter Lyon auftauchten, lichtete sich das Gewölk über ihnen, und gleichzeitig verzogen sich die schwarzen Wolken in ihrem Schädel, die noch beim kargen Frühstück jeden müden Satz aus ihrem Mund überschattet hatten. Wie ein Blitz in der Dämmerung fuhr ihr der erste Sonnenstrahl vor der Brücke bei Vienne ins Auge, verstärkt durch die Reflektion auf der nassen Autoroute du Soleil. Schmerzhaft geblendet senkte sie den Blick. Gut, saß nicht sie am Steuer.
    »Siehst du, ›Nomen est omen‹ stimmt eben doch«, freute sich Michel.
    »Und deine coole Sonnenbrille macht plötzlich doch noch Sinn.«
    »Pilotenbrille, Design by Porsche. Ich muss schon bitten!«
    Sie lachte, zum ersten Mal an diesem Morgen. »Oh, du bildest dir ja wirklich einiges darauf ein.«
    Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, dann fragte er besorgt: »Besser?«
    Sie nickte. Nach einer Weile sagte sie nachdenklich: »Audrey wird sich bald wieder beruhigen. Wie ich sie kenne, tut ihr jetzt schon leid, was sie mir an den Kopf geworfen hat.« Frag jetzt um Himmels Willen nicht! Sie wollte nicht wiederholen, was sie sich von ihrer manchmal etwas gar selbstgerechten Tochter hatte anhören müssen. »Er könnte dein Sohn sein, hat er einen Mutterkomplex?«, war noch das Harmloseste.
    Er hakte nicht nach, bemerkte nur: »Schade, ich hätte sie gerne näher kennengelernt.«
    »Glaube ich dir aufs Wort!«, entfuhr es ihr.
    Er grinste. »Genau das hat sie auch gesagt.«
    Eine Weile schaute sie stumm in die frisch gewaschene Landschaft hinaus, erfreute sich am gleißenden, weißen Licht, an den vorbeifliegenden, glänzenden Büschen und Bäumen am Straßenrand. Sie waren unterwegs zu ihrem geheimen Patienten, den sie angeblich nicht kannte. Sie hasste es, Michel etwas vorspielen zu müssen, aber das Arztgeheimnis und der Anstand ließ ihr keine andere Wahl. Schon seltsam, dass sie Patrick in gewisser Hinsicht besser kannte als sein langjähriger Freund, doch über sein Leben, seine Vorlieben, Abneigungen, Stärken und Schwächen wusste sie so gut wie nichts. »Erzähl mir von Patrick«, sagte sie unvermittelt.
    Er antwortete, nachdem er den Langweiler im Mercedes überholt hatte. »Was willst du wissen?«
    »Was für ein Mensch ist er?«
    »Ein zuverlässiger, großzügiger Freund und ein arroganter Pedant, je nachdem, wen du fragst«, lachte er. »Im Ernst: er ist ein sehr umgänglicher, auch witziger Typ, aber er kann Dummheit und Falschheit nicht ausstehen. Da neigt er manchmal zu etwas gar groben Pauschalisierungen. Er mag zum Beispiel keine Amerikaner. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer seinerzeit die Bush-Cheney-Gang gewählt habe und ›24‹ für einen Dokumentarfilm halte, sei einfach zu groß, meint er.«
    Sie lachte schallend. »Da hat er nicht ganz unrecht«, stimmte sie zu. »Und was ist mit seiner anderen Seite?«
    »Den Pedanten, meinst du? Na ja, den kenne ich eigentlich nur vom Hörensagen. Er nimmt seine Arbeit außerordentlich ernst. Wenn er in einer Fabrik oder einem Kraftwerk zu einer Kontrolle auftaucht, sollen die Betreiber jeweils zittern. Er findet scheinbar immer etwas und haut es den Leuten gnadenlos um die Ohren.«
    »Finde ich durchaus lobenswert«, bemerkte sie schmunzelnd. Dieser Patrick gefiel ihr. Umso mehr fürchtete sie sich vor der Diagnose, die sie ihm vielleicht bald stellen müsste. Wieder betrachtete sie eine Weile schweigend die vorbeiziehende Landschaft. Ewig gleiche Büsche rasten am Rand des Betonbandes vorbei, zufällige Ansammlungen schmuckloser Häuser, Baustellen, wieder Büsche und Platanen. Das sollte die Provence sein? Sie griff in ihre Tasche, holte ein dünnes Büchlein heraus und begann zu lesen.
    »Spannend?«
    »Wo sind wir?«, fragte sie zurück, ohne aufzublicken.
    »Wir haben soeben Valence passiert und

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