Natürliche Selektion (German Edition)
Sie haben Konzentrationsstörungen erwähnt. Manifestieren sich diese bei Ihrer Arbeit, zum Beispiel in Sitzungen?«
»In Sitzungen, am Telefon. Ich merke, dass ich den Kopf nicht bei der Sache habe, was mir früher kaum passiert ist. Schlimmer, es ist, als würde mich etwas oder jemand ablenken.«
Sprach er von Halluzinationen? Aus seinem Verhalten ließen sich noch keine Schlüsse ziehen. Er wirkte souverän, analytisch, rational, drückte sich klar und kultiviert aus, wie man es von einem ehemaligen Eliteschüler erwartete. Die Symptome, die er beschrieb, kannte sie nur allzu gut, aber sie waren in keiner Weise spezifisch. Von der harmlosen, vorübergehenden Störung bis zur Schizophrenie war alles möglich. Sie begann, das Problem einzugrenzen. »Sie sagten, sie hätten die Symptome früher nicht ernst genommen. Wann hat sich das geändert?«
Er schaute sie lange nachdenklich an, bevor er antwortete: »Seit dem Ostersonntag.«
»Seit dem Suizid Ihres Freundes?«
»Seit dem zweiten Suizid«, betonte er.
»Möchten Sie darüber reden?«
»Ich weiß nicht. Ja und nein. Sollten wir?«
Sie nickte. »Es ist eine traumatische Erfahrung. Ja, ich denke, wir sollten uns darüber unterhalten, aber nicht heute. Es ist besser, etwas mehr Abstand zu haben.«
Die Zeit für das erste Gespräch war um. Patrick Fournier verließ ihre Praxis mit der beruhigenden Gewissheit, jemanden gefunden zu haben, mit dem er über seine Ängste reden konnte, dessen war sie sich sicher. Wem aber sollte sie ihre Angst anvertrauen? Falls sich Patricks Probleme als das herausstellten, was sie befürchtete, bestand durchaus die Gefahr, dass ihn ein ähnliches Schicksal erwartete wie seine beiden unglücklichen Freunde. Waren die wilden Spekulationen des rasenden Reporters doch nicht völlig unbegründet? Und Michel, war er der Nächste?
Michel nutzte die Pause, um die Lage kurz mit Leo zu besprechen. Er hoffte, die lieben Kollegen und Mitarbeiterinnen würden ihr das Leben am Morgen danach nicht allzu schwer machen. In Gedanken versunken betrat er das Haus der psychiatrischen Klinik. Er erkannte den Mann, der gesenkten Hauptes an ihm vorbei zur Tür eilte, erst, als er schon den Fuß auf der Treppe hatte. Er wirbelte herum und rief verblüfft: »Patrick?«
»Michel? Was tust du denn hier?«
Sein Freund hatte ihn offenbar auch nicht bemerkt. »Ich arbeite in diesem Spital, schon vergessen?«, lachte er. »Aber was führt dich hierher? Treibt dich der Chef in den Wahnsinn?«
Patrick schien nicht zu Scherzen aufgelegt. Ohne seine Frage zu beantworten, begann er von René zu reden. »Ein paar Tage vor Ostern haben wir noch zusammen Kaffee getrunken«, sagte er kopfschüttelnd. »Man weiß nie, was in einem Menschen vor sich geht, wie?«
»Wohl wahr. Ich frage mich auch, was Alain dazu treibt, all diesen Unsinn über sich und uns zu verbreiten.«
»Wir müssen einmal ein ernstes Wort mit unserem Freund von der Boulevardpresse reden. Aber nach meinen Ferien. Ich muss mich dringend ein paar Tage erholen. Bin ich auch meiner Verlobten schuldig.«
»Ferien? In deiner fürstlichen Datscha an der Côte?«
Patrick grinste. »Na ja, eigentlich ist es Chantals Haus.«
»Oder das ihrer Eltern, um genau zu sein«, schmunzelte Michel und fügte mit einem schweren Seufzer hinzu: »Eine reiche Freundin müsste man haben.«
Patrick warf ihm einen spöttischen Blick zu. »In dieser Hinsicht kannst du dich auch nicht beklagen, oder irre ich mich?« Als er nicht antwortete, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte lächelnd: »Wie auch immer. Wir sind übernächste Woche in Cannes. Ihr seid herzlich eingeladen, uns zu besuchen. Wirf den Bettel hier für eine Weile hin, spann auch mal aus, lass den Rummel hinter dir. Wie hört sich das an?«
»Gut, sehr gut hört es sich an«, nickte Michel. Das Angebot kam überraschend, aber das war nichts Neues bei Patrick, und Gegenargumente fielen ihm spontan keine ein.
KAPITEL 4
Lyon
K aum tauchten die Lüftungskamine bei der Einfahrt zum Tunnel de Fourvière vor ihnen auf, war endgültig Schluss. Leo schaltete noch einen Gang herunter. Sie fuhren eine Weile im Schritttempo, aber fünfhundert Meter vor dem Loch stand die Kolonne. Feierabend in Lyon. Ein altes Chanson des unsterblichen Georges Brassens tönte aus den Lautsprechern. Michel kannte die Worte, sang leise mit:
Si seulement elle était jolie
Je dirais: »tout n'est pas perdu.
Elle est folle, c'est entendu,
Mais quelle beauté
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