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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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befinden uns im Anflug auf Montélimar.«
    »Ausgezeichnet. Bei der Ausfahrt 18, Montélimar-Sud, musst du raus.«
    »Was? Gibt’s eine Abkürzung nach Cannes?«
    »Dummkopf«, schmunzelte sie. »Wir fahren nach Nyons, Provence angucken.«
    Er schaute sie verblüfft an. »Ach, wusste ich gar nicht.«
    Brav folgte er ihren Anweisungen, die sie weg von der Autobahn in eine liebliche Hügellandschaft führten. Olivenhaine säumten die Strasse nach Nyons, einem Provinzstädtchen mit mittelalterlichem Charme, wie ihr Reiseführer versprach. »Siehst du? Die Provence!«, seufzte sie schwer. Sie öffnete das Fenster weiter, um mehr vom würzigen Duft hereinzulassen.
    »Manchmal hast du ganz gute Ideen«, gab er grinsend zu.
    »Du brauchst deine Begeisterung nicht zu unterdrücken. Du liebst es, mit deiner Angebeteten durch die betörende Gegend zu gondeln.«
    »Das sieht man mir an?«
    »Ich sehe es«, lachte sie. »Ich bin dafür ausgebildet, vergiss das nicht.«
    Die erdfarbenen Häuser mit ihren rot leuchtenden Ziegeldächern sonnten sich idyllisch am Ufer eines Flüsschens, eingebettet ins satte Grün der Pinien, Wacholderbüsche, Steineichen und einen Kranz silbern schimmernder Olivenbäume. Hie und da ragte die Spitze einer Zypresse wie ein kolossaler Wächter aus dem Gestrüpp.
    Sie parkten den Wagen vor der alten Brücke.
    »Scheint, dass noch andere Leute den gleichen Gedanken hatten«, bemerkte Michel trocken, als sie die Gassen der Altstadt betraten.
    Donnerstag, Markttag, und zwei ganze Seiten im Reiseführer. Sie hätte es sich denken können. Sie ließen sich vom zahlreichen Fußvolk zum Marktplatz treiben. Es roch herrlich nach Basilikum, Fenchel, Rosmarin, Thymian und anderen frischen Kräutern. Ein Hauch von Vanille wehte ihr entgegen und weckte ihren Wühl- und Sammeltrieb. Jede Hemmung fiel von ihr ab. Ihr Begleiter löste sich in Luft auf. Sie hatte nur noch Augen, Nase, Hände und Ohren für die wunderbaren Auslagen der Kräuterbauern, Olivenmänner, Käser und Schinkentrockner. Sie sah den gequälten Pudelblick nicht, mit dem Michel ihr kreuz und quer durch die Stände folgte. Beim Weinhändler vor dem Bistro blieb sie erschöpft stehen. Zwei dicke Tragtaschen voll mit Früchten, frischer Tapenade aus schwarzen Oliven, Anchovis und Kapern, kalt gepresstem Olivenöl, Saucisson aus Eselfleisch, Honig und anderen süßen Köstlichkeiten der Umgebung waren die Ausbeute ihrer berauschenden Jagd.
    »Fehlt nur noch eine Flasche dieses Syrah«, kommentierte Michel mit einem Gläschen des rubinroten Rebensafts in der Hand. Der Weinbauer verstrickte ihn sofort in eine Diskussion über die Vorzüge seines Kellers, wo der Wein in alten Eichenfässern reifte, die schon sein Vater benutzt hatte.
    Sie stand hungrig und durstig daneben, hörte eine Weile zu, bis sie sich über die ›Nase‹ einigten: pfeffrig, mit einer blumigen Note, Veilchen vielleicht. Dann riss ihr der Geduldsfaden. »Nun kauf sie endlich!«, forderte sie ungeduldig. »Ich muss was essen.«
    Zufrieden schmunzelnd über seine kleine Rache ließ er sich zwei Flaschen einpacken, bevor sie das Bistro betraten.
    »Ich liebe es, mit dir durch die Gegend zu gondeln«, zitierte er sie lachend, als sie eine Stunde später satt und entspannt wieder auf den Platz hinaustraten. Die meisten Auslagen waren verschwunden, das Volk hatte sich zurückgezogen, der Markt war zu Ende.
    »Siehst du, ...« Ihr Telefon piepste in der Tasche. Audrey. Mit einem vielsagenden Seitenblick auf Michel zog sie sich etwas zurück und drückte die Empfangstaste. Nach den ersten paar Worten ihrer Tochter atmete sie erleichtert auf. Wie sie vorhergesagt hatte, entschuldigte sie sich für den Eklat, den sie mit der Abneigung gegenüber der neuen Liebe ihrer Mutter ausgelöst hatte. Sie sagte es zwar nicht, aber Leo spürte, dass sie doch den einen oder anderen guten Faden an Michel gefunden hatte. Audrey würde sich mit ihrer Beziehung abfinden. Sie war froh, dass das Versteckspiel endgültig ein Ende hatte. Nun konnte sie sich voll auf das Problem Patrick konzentrieren – und auf die restlichen vier Stunden Asphalt putzen bis zur Côte d’Azur.
Cannes
    Leo bemerkte den gelangweilten Blick sehr wohl, den Patrick seinem Freund zuwarf, und sie verstand ihn auch ohne Worte. Sie saßen im Lesesaal der Mediathek in der ehemaligen Villa Rothschild, der für einmal nicht dem stillen Studium der Bücher oder als Schlafplatz diente, sondern Schauplatz einer elitären Buchpremiere war.

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