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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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der Rettungswagen eintraf, konnte es schon zu spät sein, wenn er überhaupt durchkam. In aller Eile zerrte Michel die Notfallkassette aus dem Kofferraum und hastete zum Patienten zurück.
    »Deine ›EpiPen‹ ist abgelaufen«, flüsterte Leo hinter ihm, als er die Spritze mit dem lebensrettenden Adrenalin herausholte. Er stutzte nur kurz, beachtete sie aber nicht weiter, sondern kontrollierte die Flüssigkeit im Röhrchen. Sie hatte recht, das Ablaufdatum war um drei Monate überschritten, aber er konnte keine Trübung oder Verfärbung feststellen. Er brauchte nicht nach dem Körpergewicht des Kindes zu fragen. Der Junge geriet ganz nach seinem Vater, brachte bestimmt schon vierzig Kilo oder mehr auf die Waage, also spritzte er ihm die ganze Dosis in den Oberschenkel. Gleichzeitig versuchte er, die in Panik geratenen Eltern zu beruhigen. Die 300 Mikrogramm Epinephrin verteilten sich schnell im Blutkreislauf. Nach kurzer Zeit atmete Chris regelmäßiger.
    Michel sprang aus dem Van, bevor ihn die überglücklichen Eltern umarmen konnten. »Das ist nur eine Notmassnahme«, schärfte er ihnen ein. »Fürs erste ist Ihr Sohn über den Berg, aber er muss trotzdem weiter behandelt werden. Ich bin im Wagen hinter Ihnen, falls Sie mich noch brauchen.«
    Mit diesen Worten flüchtete er in den sicheren Porsche zurück. »Ich sagte doch, du sollst im Wagen bleiben«, meckerte er.
    Leo blickte ihn mit verdattertem Gesicht an. »Der große Medizinmann spricht mit unverständlicher Zunge«, seufzte sie kopfschüttelnd.
    Er grinste. »Dein Kurzzeitgedächtnis ist auch nicht mehr das beste. Du hast mich vor dem Verfalldatum des Epinephrin gewarnt, schon vergessen?«
    Sie zuckte sichtlich zusammen, schaute ihn an, als sähe sie ein Gespenst. »Wovon redest du da? Ich saß die ganze Zeit im Wagen.«
    Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, was er gehört hatte. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch er rang um jedes Wort, wusste nicht, was er sagen sollte. Das ohrenbetäubende Geheul des Martinshorns riss ihn aus seinen Gedanken. Der Rettungswagen brauste heran und lenkte Leos Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor ihnen. Der Van scherte aus der Kolonne aus, parkte auf dem Pannenstreifen hinter der Ambulanz. Mit einem unschönen Ruck fuhr Leo den Porsche in die Lücke, und wie durch ein Wunder begann sich die Kolonne langsam zu bewegen. Vom Pfropf befreit, spie die Röhre die Fahrzeuge ans Tageslicht, auf die Brücke.
    »Verlassen Sie die Autobahn bei der nächsten Ausfahrt«, empfahl die samtweiche Frauenstimme seines Navigationsgerätes, und Leo quittierte zuckersüß:
    »Aber sicher, meine Liebe.«
    Das Grau des Himmels hatte sich in bedenkliches Schwarz verwandelt, als sie vom Parkhaus über die Passerelle beim Palais de Justice ans andere Ufer der Saône eilten. Nur mit Glück würden sie die fünfhundert Meter zu Audreys Wohnung trockenen Fußes schaffen. Das Kopfsteinpflaster der Rue des trois Maries vertrug sich schlecht mit Leos hochhackigen Pumps. So fielen denn bereits die ersten Tropfen, als sie die steilen Stufen der Montée du Garillan hinaufstiegen. Audrey wohnte in einem der wenigen erdfarbenen alten Häuser oben am Ende der Treppe. Das frische Grün einer Weinrebe rankte sich an der Hauswand hoch bis unters Dach. Mit den vielen blumengeschmückten Fenstersimsen hob sich das Haus deutlich von seinen kahlen und etwas verwahrlosten Nachbarn ab.
    »Hast du dich verfahren?«, spottete Audrey zur Begrüßung ihrer Mutter.
    »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Leo. Sie küsste Audrey auf die Wangen, dann trat sie zur Seite und sagte: »Ich möchte dir Michel vorstellen, Michel Simon. Dr. Simon ist der Kollege aus der Salpêtrière, dem ich diese spontane Reise an die Côte zu verdanken habe. Er hat Freunde ...« Sie hätte noch weiter geplappert, wäre sie nicht von ihrer Tochter unterbrochen worden:
    »Das ist also deine geheimnisvolle Begleitung.« Audrey musterte Michel, als schätzte sie sein Gefahrenpotenzial ein und reichte ihm die Hand. »Bonsoir, Monsieur«, begrüßte sie ihn kühl.
    Er setzte sein einnehmendstes Lächeln auf. »Michel, nennen Sie mich einfach Michel, Audrey. Und vielen Dank für die Einladung.«
    »Keine Ursache«, murmelte die junge Frau, deren Gesichtszüge sich erstaunlich von denen ihrer Mutter unterschieden. Eher die weicheren Formen und das kurze Näschen einer Südländerin, umrahmt von einer dunklen Mähne, stellte er

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