Natürliche Selektion (German Edition)
Patricks Verlobte Chantal hatte sich, ganz dem Anlass entsprechend, in hautengen Lederhosen und schwarzem Gilet auf der Kante eines Pults drapiert und las aus dem neusten Werk eines deutschen Wilden, das sie übersetzt hatte. Der trotz seines struppigen Barts jugendlich wirkende Autor saß kreidebleich zu ihren Füssen und starrte verständnislos in die Runde. Chantal hätte ebenso gut aus dem Telefonbuch vorlesen können, der junge Mann verstand mit Sicherheit kein Wort. Und damit geht es dir nicht besser als mir, dachte Leo mit einem stillen Stoßseufzer. Es konnte nicht an der Übersetzung liegen. Ein derart verkorkstes Gelaber wirrer und irrer Gedanken brachte auch ein miserabler Übersetzer nicht zustande. Obwohl als Novelle deklariert, erkannte man nicht den Hauch einer inneren oder äußeren Entwicklung oder gar Handlung. Sie hatte genug gehört, widmete sich lieber wieder dem Studium der barocken Trompe-l'Œil-Fresken an den Wänden und träumte von besseren Zeiten.
Verhaltener Applaus beendete die Qual. Der Saal leerte sich bis auf ein paar Hartgesottene, die unbedingt ihr Buch signiert haben wollten. Chantal stand daneben und übersetzte den nichtssagenden Smalltalk tapfer hin und her, stets ein verbindliches Lächeln auf den Lippen. Leo bewunderte die Frau: sie musste ein Nervenkostüm aus Stahl besitzen.
»Ein genialer Literat«, seufzte Patrick scheinbar ergriffen auf dem Weg durch den Park.
Chantal wickelte den Schal enger. Sie fröstelte in der abendlichen Brise. Vielleicht war es auch die Erinnerung an die vergangene Stunde. »Ich weiß, aber der Verlag zahlt gut«, entgegnete sie schaudernd. »Ihr macht euch keine Vorstellung, wie viel Blut ich bei dieser Übersetzung geschwitzt habe.«
Leo musste das Kompliment für die überlegene Vorstellung ihrer neuen Bekannten loswerden: »Du hast dich auf jeden Fall großartig geschlagen. Ich habe schon nach dem zweiten Satz nichts mehr verstanden.«
»So schlimm war es nun auch wieder nicht«, lachte Michel. »Ich habe jedes Wort verstanden. Nur zusammen ergaben sie keinen Sinn.«
Die missglückte Novelle sorgte auch auf dem Rückweg zum Haus für heiteren Gesprächsstoff. Sie fand Patricks philosophischen Exkurs durchwegs anregend. Ihr Patient war ein heller Kopf, alles andere als einseitig interessiert. Wie Michel angedeutet hatte, schoss er manchmal übers Ziel hinaus, aber seine kulturell überlegene Verlobte sorgte jeweils umgehend für den richtigen Kontext. Die beiden führten eine spannende Beziehung.
Das Haus in den Hügeln von Super Cannes war ein Erbstück von Chantals Eltern. Sie hatten sich hier, hoch über der Bucht von Cannes, ihren Alterssitz bauen lassen: eine großzügige Siebenzimmer-Villa im provenzalischen Stil. Romantischer Pavillon, Fontänen und Pool in einem gepflegten Garten, beinahe so weitläufig wie der Park der Villa Rothschild. Chantal hatte für diesen Abend eine Köchin engagiert, die ihr manchmal zur Hand ging. »Eine ältere Frau, Spanierin, sehr zuverlässig«, erklärte sie auf dem Weg in der Küche.
Leo schmunzelte, als sie die mit Antipasti und Tapas beladenen Platten sah. »Unverkennbar«, staunte sie. Die Frau hatte ihre Vorräte vom Markt in Nyons in fantasievolle, verführerische Kreationen eingearbeitet. Zusammen trugen sie die Speisen in den Salon zu den beiden Männern, die sich seit der Lesung offenbar brennend für Literatur interessierten. Leo hörte noch, wie Michel spöttisch bemerkte:
»Du glaubst im Ernst, die literarische Kultur fließe nur von Frankreich nach Deutschland, nicht umgekehrt?«
»Im allgemeinen, mein Lieber«, betonte Patrick. »Du darfst das große Ganze nicht aus den Augen verlieren. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber wie schon ein ganz Gescheiter einmal gesagt hat: Das Problem der deutschen Literatur liegt darin, dass die Deutschen zu zeitig aus der Schule der Franzosen gelaufen sind , oder ähnlich.«
Chantal lachte ihn aus. »Das hat ein Deutscher gesagt, du Philosoph«, sagte sie kopfschüttelnd. »Friedrich Nietzsche. Und wenn wir schon dabei sind, solltest du den ganzen Spruch zitieren: Das Unglück der deutschen und französischen Literatur der letzten hundert Jahre liegt darin, dass die Deutschen zu zeitig aus der Schule der Franzosen gelaufen sind – und die Franzosen, späterhin, zu zeitig in die Schule der Deutschen .«
»Der Mann hat definitiv weiter gedacht, als du angenommen hast.«, grinste Michel.
Patrick fühlte sich nicht ganz wohl. Mit gequältem
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