Natürliche Selektion (German Edition)
Telefonkonferenz zu schalten. Sein Stellvertreter ist bereits hierher unterwegs. Wir treffen uns in dreißig Minuten im großen Sitzungszimmer.« Damit drehte er ihm den Rücken und verließ die Zentrale mit seinen Leuten.
Allein mit den zwei Angestellten, die während der Nachtschicht für die Überwachung zuständig waren, wählte er nochmals die Nummer des Notfallstabs in Paris, um seine Leute auf die Sitzung vorzubereiten. Während der Besprechung beobachtete er die Bildschirme über der Konsole. Sie zeigten nicht nur das hell erleuchtete Gelände rund um die Reaktoren mit den vier Zufahrtsstraßen, sondern auch das Innere der Gebäude bis hinein ins Containment, wo sie den Blick auf die Wartungsplattform und den Wassertank mit dem Druckbehälter des Reaktorkerns freigaben.
»Was ist mit den Regelstäben in Reaktor 2 los?«, fragte er einen der Techniker, als er das Telefon wieder einsteckte. Er konnte es nur undeutlich erkennen, aber unterhalb der Wartungsplattform, rund um die Führung der für die Regulierung der Kernreaktion notwendigen Cadmiumstäbe, war ein zweites Gerüst montiert, das dort nicht hingehörte.
Der Mann reagierte ausgesprochen verschüchtert: »Das – ich weiß nicht genau. Wartungsarbeiten. Dafür ist die Mannschaft von Tricastin-2 zuständig, Monsieur.« Dass dieser Halbgott aus Paris mit ihm sprach, verwirrte den Techniker offensichtlich nachhaltig. Er blätterte nervös in seinem Arbeitsrapport, bis er erleichtert aufatmete. »Ah, hier steht es, sehen Sie: Vibrationen am Regelantrieb. Die Arbeiten dauern noch zwei Tage.«
Nicht zu fassen!, schimpfte Patrick innerlich. Die einwandfreie Funktion der Regelstäbe war das mit Abstand heikelste Element des ganzen Reaktors. Er konnte nicht begreifen, dass man ihn nach einem solchen Störfall nicht sofort heruntergefahren hatte. Aber er verzichtete auf einen Kommentar. Der Techniker trug keine Schuld, er war nur für die Überwachung zuständig. Die halbe Stunde war beinahe um, Zeit für die entscheidende Sitzung. Er erhob sich, wollte sich abwenden, und setzte sich gleich wieder. Angestrengt starrte er auf den Monitor, der die Wartungsplattform des Reaktors 2 zeigte. »Wird dort nachts gearbeitet?«, fragte er misstrauisch.
Diesmal kam die Antwort des Technikers ohne Zögern: »Nein, nur tagsüber.«
»Was haben denn die zwei Leute auf der Plattform zu suchen?«
Widerstrebend rückte der Angestellte näher. Zusammen beobachteten sie den Bildschirm eine Weile, doch es war keine Bewegung mehr zu sehen. Schließlich fragte der Mann verlegen: »Welche Leute?«
Patrick war sich seiner Sache sicher. Er hatte zwei Gestalten über die Plattform huschen sehen. »Ich möchte, dass Sie das überprüfen lassen!«, befahl er verärgert. »Im Containment von Reaktor 2 gibt es Leute, die dort nichts zu suchen haben.« Dann ließ er die verdatterten Techniker stehen und eilte hinaus zum Sitzungszimmer.
An der Sachlage gab es nichts zu rütteln. Das begriff auch die Direktion nach den ersten turbulenten Minuten. Er beschloss, das Problem des Reaktors 2 nicht in diesem Gremium zu diskutieren. Ein Wort mit dem Betriebsleiter unter vier Augen würde mehr nützen, daher fasste er die Forderung der ASN so zusammen, dass möglichst keine Fragen mehr blieben: »Die Situation erfordert das Herunterfahren aller Reaktoren. Tricastin 1, 3 und 4 können sofort vom Netz genommen werden. Am Regelantrieb des Reaktors 2 finden derzeit Revisionsarbeiten statt. Das möchte ich zuerst mit der Betriebsleitung besprechen, bevor auch dieser Reaktor heruntergefahren wird.« Der Betriebsleiter warf ihm einen überraschten Blick zu, sagte aber nichts, also fuhr er fort: »Anschließend müssen die Primärkreisläufe eingehend überprüft und der Einsatz neuer Dichtungen geplant werden.«
»Jeder Tag, an dem wir nicht produzieren, kostet Millionen«, klagte der Direktor am Telefon, »das ist Ihnen hoffentlich klar, meine Herren. Ich will, dass dieses Problem so rasch wie möglich behoben wird.«
Der Betriebsleiter quittierte die hilfreiche Aufforderung mit einer ärgerlichen Grimasse. »Das wollen wir alle, Monsieur le directeur«, brummte er. »Aber wo sollen wir so schnell neue Dichtungen bekommen, die den Anforderungen genügen?«
»Ich schlage einen Zweistufenplan vor«, warf Patrick ruhig ein. »In einer ersten Phase können Sie neue Teile der gleichen Serie aus dem Ersatzteillager verwenden. Die müssen allerdings in spätestens zwei Jahren wieder ausgewechselt
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