Natürliche Selektion (German Edition)
riefen mehrere Techniker gleichzeitig.
Ihr Chef schien sie nicht gehört zu haben. »Runter mit den verdammten Stäben!«, brüllte er sie an. Blaue Adern zeichneten sich auf seiner rot leuchtenden Glatze ab.
»Die Schlüssel. Der Kerl hat die Schlüssel!«, jammerte einer.
Dieser Albtraum wurde von Minute zu Minute schlimmer. Er versuchte klar zu denken, die beste Lösung zu finden, aber es gab keine gute Lösung für dieses Problem. »Organisiert den Backup und bringt den verfluchten Generator zum Laufen!«, befahl er resigniert. Er wusste, dass es unter diesen Umständen ein, zwei Stunden dauern konnte, bis die Zweitschlüssel aus dem abgelegenen Sicherheitsarchiv eintrafen, von einer Reparatur der Notstromversorgung nicht zu reden. Blieb nur noch der fragwürdige Sturm auf das Containment, aber bis sie die Schlüssel beschafft hatten, konnte die Kühlung des Kerns längst ausgefallen sein. Dann waren sie alle und die ganze Umgebung bis hinauf ins Elsass und hinunter an die Côte erledigt. Albtraum war gar kein Ausdruck. Sie steckten in einer gottverdammten, monumentalen Höllenscheiße.
Für einmal landete kein Krankentransport auf dem Dach der Chirurgie des Hôpital Pitié-Salpêtrière. Ein Notfall anderer Art hatte den Polizeihubschrauber mitten in der Nacht hierher geleitet. Kaum hatte er aufgesetzt, sprang ein Uniformierter aus der Maschine und lief auf den Aufzug zu. Der Hubschrauber wartete mit laufenden Rotoren, bis der Beamte in Begleitung eines Zivilisten wieder erschien und Platz nahm, dann hob er ab.
»Wann werden wir dort sein?«, fragte Michel den Polizisten neben ihm. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als sich die Ereignisse zu überstürzen begannen. Mitten im Telefongespräch mit Leo kam die Nachtschwester atemlos angerannt und holte ihn an den Apparat der Notfallzentrale. Er verstand zuerst kein Wort von dem, was eine aufgeregte Frauenstimme und der sonore Bass eines Mannes ihm sagen wollten. Schließlich beruhigte sich die Frau ein wenig. Es war Chantal, die verzweifelt um Hilfe flehte. »Nur du kannst eine Katastrophe noch verhindern«, hatte sie geschluchzt. Die Bassstimme gehörte dem Direktor der ASN. Von ihm erfuhr er endlich, worum es ging. Fassungslos hörte er von der Geiselnahme in Tricastin. Auch er als Neurologe und bester Freund Patricks konnte die Katastrophe nicht mehr verhindern. Sie war schon geschehen, aber was immer er zu einer friedlichen Lösung beitragen konnte, würde er ohne Zögern tun. »Der Hubschrauber ist bereits unterwegs«, war das Letzte, was Patricks Chef sagte, bevor er sich mit den Worten »Viel Glück« verabschiedete.
»Wir bringen Sie zum Flughafen. Mit dem Jet sind Sie in fünfzig Minuten in Pierrelatte.«
Die Antwort des Polizisten schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Wie? Ach so, danke.« Wenn es dann nicht schon zu spät ist , dachte er bedrückt. Er rief nochmals Leo an. Sein Versuch, sie im letzten Gespräch nach dem chaotischen Telefonat mit Chantal und der ASN zu beruhigen, hatte offenbar wenig gefruchtet.
»Du bist verrückt«, warf sie ihm zornig an den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie du dich auf so etwas einlassen kannst.«
»Er ist mein Freund ...«
»Und was bin ich?«
Sie war wütend, wollte nicht mit sich reden lassen. In diesem Zustand konnte man nicht vernünftig argumentieren. Er sagte darum nur: »Ich liebe dich, Leo.«
Eine Weile war es still in der Leitung. Nur das Knattern der Rotorblätter war nicht zu überhören. Schließlich antwortete sie so leise, dass er sie kaum verstand: »Ich habe Angst.«
»Ich weiß, ich auch.« Sinnlos, ihr etwas vorzumachen. »Drück mir die Daumen.«
»Du bist verrückt«, wiederholte sie, doch diesmal lag kein Ärger in ihrer Stimme, nur Sorge und ein Hauch von Hilflosigkeit.
Der Flug ins nächtliche Rhonetal war zu kurz, sich darüber klar zu werden, wie er Patrick in dieser ausweglosen Situation helfen konnte. Immer wieder sah er dieses grässliche RNA-Monster an Lorenzos totem Hippocampus. Nun hatte es also auch Patrick erwischt. Er glaubte nicht mehr an eine andere Erklärung für das unbegreifliche Verhalten seines Freundes. Er hatte den Feind gesehen, und doch kämpfte er gegen etwas völlig Unbekanntes. Es breitete sich in Patricks Hirn aus. War es auch in ihm? Wie konnte er es stoppen? Nur Fragen, keine Antworten. Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Erst als der Jet zur Landung ansetzte, nahm er wahr, was er sah. Nicht nur die Landebahn des
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