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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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anonymen Kuvert. Als erstes fiel ihm auf, dass zwar die Seriennummern voneinander abwichen, die gelieferten Messergebnisse jedoch bis auf die letzte Kommastelle übereinstimmten. Aufgrund der Nummern mussten Monate, wenn nicht Jahre zwischen den Messungen liegen. Unmöglich, dass vollkommen identische Ergebnisse gemessen wurden, schloss er. Das zweite, ebenso schwerwiegende Problem war, dass es in den Offertunterlagen Lücken gab in den Messreihen. Der Hersteller hatte die fatalen Resultate der Langzeit- und Belastungstests, die in den zugesandten Unterlagen vollständig enthalten waren, schlicht unterschlagen.
    Plötzlich spürte er wieder dieses unangenehme Kribbeln im Nacken, als beobachtete ihn jemand. Er sprang auf, wirbelte herum, starrte verwirrt und zornig auf die leere Wand. Nichts rührte sich, er war allein im Zimmer, die Tür geschlossen, obwohl er den leisen Luftzug deutlich gespürt hatte. »Merde«, zischte er zwischen den Zähnen. Eine beklemmende Unruhe packte ihn. Hier konnte er nicht ungestört weiterarbeiten. Er legte seine Dokumente und Notizen zusammen mit dem Offertordner in den Aktenkoffer und verließ das Gebäude.
    Auf dem Weg ins Hotel schaltete er das Telefon ein. Er ignorierte die Piepser, die neue Nachrichten auf der Mailbox ankündigten und wählte Chantals Nummer.
    Sie hob nach dem ersten Summton ab: »Hallo mein Schatz. Wieder am Tageslicht?«
    »Na ja, viel bleibt nicht mehr übrig vom Tag«, seufzte er lachend. »Alles in Ordnung bei dir?«
    »Die Sklaventreiber von ›Hachette‹ sind hinter mir her, aber sonst gibt es keine Probleme.«
    »Der ganz alltägliche Wahnsinn des Literaturbetriebs, ich weiß.« Er fragte sich schon lange, welcher Teufel die Angestellten der Verlagshäuser wohl ritt, wenn sie atemlos von einem Termin zum nächsten hetzten. Unfähig, zwischen Qualität und Quantität zu unterscheiden, war seine einzig logische Erklärung dieses Phänomens. Aber er rief nicht an, um sich über Chantals Brötchengeber zu amüsieren. »Hör mal, du Schöngeist. Wie’s aussieht, dauert es noch etwas länger hier. Ich werde wohl morgen noch nicht fertig.«
    »Hast du Probleme?« Ihre Stimme klang mit einem Mal besorgt.
    »Ich nicht, aber die Fabrik. Sie wissen es nur noch nicht.«
    »Keine ...?«
    »Visionen, meinst du? Nein«, log er, »du kannst beruhigt sein.«
    Sie schien sich zu überlegen, ob sie ihm glauben konnte, dann sagte sie leise: »Pass auf dich auf. Übrigens – du sollst unbedingt Michel anrufen. Es sei wichtig, sagt er.«
    Wichtig , das Wort ging ihm auch später auf dem Zimmer nicht aus dem Kopf. Wusste Michel von seinem Problem? Traten bei ihm die gleichen Symptome auf? Die Ungewissheit nagte an ihm, trotzdem rief er nicht an. Er hatte einen Job zu erledigen, und die Zeit war knapp. Seine Gedanken kehrten zu den Dokumenten zurück, zu den Zahlenreihen, Seriennummern, Protokollen. Er hatte genug Material, um einen sofortigen Baustopp zu verfügen, aber er wurde den Verdacht nicht los, etwas übersehen zu haben. Noch einmal breitete er die Offertunterlagen vor sich aus, auf dem viel zu kleinen Schreibtisch, auf dem Bett, am Boden. Er versuchte, alles mit neuen Augen zu sehen, seitwärts zu denken. Langsam wanderte sein Blick von Blatt zu Blatt. Immer wieder kehrte er zu den alten Seriennummern zurück, und plötzlich erinnerte er sich. Das Datum der Offerte für die Dichtungen war der Schlüssel. Er war vollkommen sicher, dass er die gleichen Bezeichnungen schon einmal gesehen hatte, im Juli vor zwei Jahren, aber nicht bei Eurodif. Damals hatte man neue Dichtungen dieser Bauart im Primärkreislauf des Reaktors Tricastin-3 eingesetzt. Und kurz zuvor wohl auch in den älteren Reaktoren 1 und 2. Vor zwei Jahren! Aufgrund der unverfälschten Messungen waren nach dieser Zeitspanne die ersten Lecks zu erwarten, weil die Teile brüchig und porös wurden. 300 Grad heißes, radioaktives Kühlwasser könnte jederzeit in den Sekundärkreislauf schießen, das ganze Maschinenhaus mit den Turbinen verseuchen und sich nicht nur mit den Dampffahnen der Kühltürme übers Land verteilen, sondern in großen Mengen in die Flüsse Gaffière, Lauzon und schließlich in die Rhone gelangen.
    »Heilige Scheiße!«, rief er laut. Tricastin hatte zurzeit ganz andere Probleme als die Bauverzögerung bei Eurodif. Mit einer Hand raffte er die lose herumliegenden Seiten zusammen, mit der andern wählte er die Nummer des Kernkraftwerks. Das Pikett der Sicherheitszentrale meldete sich. Er

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